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Rubber 07

Rubber

Text: Michael Sennhauser / 12. Jan. 2011

Kennen Sie Robert? Robert ist, französisch ausgesprochen, ein telekinetisch begabter schwarzer Killer, der Hauptdarsteller von rubber. Als «Robert» taucht er im Abspann auf, tatsächlich aber hat das Filmteam ein gutes Dutzend alter Autoreifen gebraucht, um all die Stop-Motion- und Trick-Szenen in die digitale Spiegelreflexkamera zu packen, mit der dieser Film komplett gedreht wurde.

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Mittlerer Westen, USA, Wüstensteppe, Strassenrand. Ein aufrecht stehender, abgefahrener alter Autoreifen, durch dessen runde Öffnung eine am Boden stehende, Gefieder putzende Krähe zu sehen ist. Der Reifen beginnt zu vibrieren, die Krähe schaut kurz auf, der Reifen vibriert stärker – die Krähe explodiert.

Das war der Rubber-Teaser, der über YouTube seine Verbreitung gefunden hatte, lange bevor der Film letzten Mai in Cannes im Rahmen der Kritikerwoche seine Premiere feierte. Vor allem darum, weil Regisseur Quentin Dupieux unter seinem Künstlernamen Mr. Oizo (Monsieur Oiseau) als Elektro-House-Musiker schon eine einschlägige Fangemeinde hat.

Rubber, dieser kleine Instant-Klassiker, ist vielleicht tatsächlich der beste Spielfilm des Jahres 2010, auf jeden Fall aber der beste Meta-Witz des eben zu Ende gegangenen Kinojahrzentes. Quentin Dupieux’ irrwitzige Dada-Montage wird Generationen von Filmstudierenden beschäftigen. Keine kleine Leistung für einen Film über einen psychopathischen Killerpneu.

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Die Ausgangslage erinnert an Camp-Schlock wie John De Bellos Attack of The Killer Tomatoes! Da erwacht ein alter Autopneu in der Wüste zum Leben, überfährt erst eine Plastikflasche, dann einen kleinen Skorpion und entwickelt schliesslich telekinetische Kräfte, als eine Bierflasche dem einfachen Überrollen standhält. Mit diesen Kräften bringt er dann menschlichen Opfern den Kopf zum Explodieren, wie 1981 die Scanners im Klassiker von David Cronenberg. Aber mit dem Splatterszenario und dessen stilechter Inszenierung mit amerikanischen Schauspielern lässt es Quentin Dupieux nicht bewenden. Er baut auch noch das Publikum in den Film ein, notabene nicht auf einer zweiten Erzählebene, sondern in der gleichen.

Da stehen die Leute mit Ferngläsern in der Wüste, beobachten fasziniert den Reifen, quengeln, kommentieren und werden schliesslich von einem kravattierten Reiseleiter vergiftet – damit der Film nicht zu einer Auflösung kommen muss. Einzig ein abgebrühter Veteran im Rollstuhl verweigert die Nahrungsaufnahme und erzwingt damit die Weiterführung der Handlung. Dabei hat der Sheriff (der gleiche, der im Prolog erklärt hat, es gebe für all das, wie auch für die braune Farbe des Aliens in e.t. no reason) seinen Leuten schon etwas verfrüht erklärt, dass alles Fake sei, eine Inszenierung, und zu diesem Zweck auf sich schiessen lassen – mit aufplatzenden Eintrittswunden, aber ohne Austrittswunden und Wirkung.

Rubber 02

Das in die absurde Handlung eingebaute Publikum liefert jene Kommentare, die das Kinopublikum ohnehin loswerden müsste. Das fängt an mit dem Jungen, der das Ganze schon gleich am Anfang furchtbar langweilig findet, bis der Reifen einen Feldhasen in blutige Fetzen zerfallen lässt, geht weiter mit zwei Teenie-Gören, die sich über die Kommentare der anderen beklagen, bis zu jenem vom unverwüstlichen Wings Hauser gespielten Veteranen im Rollstuhl, der sich zuerst dem Plot verweigert, indem er sich nicht vergiften lässt, dann die Handlung als zahlender Kunde seinen Wünschen anpassen möchte und sich schliesslich als unbeteiligter Zuschauer aus der Affäre zu ziehen versucht, als der Killer auf ihn aufmerksam wird.

Rubber ist die perfekte Kombination von Genre und Metafilm, ein Lehrstück fürs Kino wie Pirandellos Theaterstück «Sechs Personen suchen einen Autor» von 1921 für die Bühne. Da ist Stoff für ein halbes Dutzend Semiotik-Seminare drin, aber auch genügend Blut, Schweiss und Tränen für Abonnenten von «Fangoria».

Einen Autor suchen allerdings weder die Figuren im Film noch das eingebaute Publikum. Zwar empfängt der für das Publikum zuständige Assistent einmal telefonisch Instruktionen von jemandem, den er als «Master» anredet, wie der fliegenfressende Renfield den Grafen Dracula, und Roxane Mesquida (Sennentuntschi), die Beauty zur Begierde des Biestes aus Gummi, fragt in einer besonders irren Szene, wer denn ihren schrecklichen Text geschrieben habe. Aber grundsätzlich gilt das im Prolog postulierte «Style»Gebot des zentralen Motivs von no reason, das jedem grossen Film zugrunde liege – und das erträgt konsequenterweise keinen verantwortlichen Autor.

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Und sollte es doch einen geben, der zur Verantwortung gezogen werden wird, dann ist es das Unterhaltungskino schlechthin, vertreten durch Hollywood, vor dessen symbolträchtigem Hügelschriftzug sich in einer letzten Einstellung ein Konvoi animierter lebloser Objekte vibrierend in Stellung bringt. Guten Morgen, Pixar!

Rubber von Quentin Dupieux ist das raffinierteste Stück postpostmodernes Kino, das ich bis zu diesem Tag gesehen habe, ein Film, der so unverschämt clever ist und gleichzeitig so unverschämt unterhaltsam und billig, dass einem die Tränen kommen – vor Lachen, aber auch vor Bewunderung. Und doch: Zum Kult-Klassiker im Stil einer Rocky Horror Picture Show wird Rubber nicht werden. Dazu ist der Film zu clever, zu auf- und abgeklärt und vor allem zu selbstgenügsam. Schliesslich könnte er in einem leeren Kino laufen und hätte noch immer sein stets aufs Neue zu vergiftendes Publikum.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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