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Regilaul 04

Regilau-Lieder aus der Luft

Text: Irene Genhart / 02. Nov. 2011

Ulrike Koch führt uns in Regilaul in eine Welt, die uns zugleich so nah wie fern ist. Der dritte lange Dokumentarfilm der Filmemacherin, die auch studierte Ethnologin ist, liegt nahe am Geist der heutigen – vielleicht besser: einer heute anbrechenden – Zeit. Ein Geist, den man jüngst auch in Filmen traf wie The Tree of Life von Terrence Malick, Lars von Triers Melancholia und Clint Eastwoods Hereafter. Der Geist ist zu umschreiben als die Sehnsucht wacher Menschen nach einem anderen Sinn und /oder Sein, eine Ahnung davon, dass es Dinge gibt, die sich mit “normalen” menschlichen Sinnen nicht erfassen/erfahren lassen. Darin liegt ein Sehnen nach einem Wissen, das sich nicht oder nur bedingt im wissenschaftlichen Diskurs erschliesst. Vielleicht gab es auch eine frühere Zeit, die diesem Wissen näher war, und eine kommende, die diesem Wissen näher sein wird: Er frage sich, sagt der Schauspieler und Sänger Jaak Johanson in Regilaul, ob der heutige Mensch die Verbindung zur Natur brauche. Ob eine Zeit komme, in der das mutwillig zerbrochene Vertrauen zwischen Mensch und Natur wieder wichtig werde. An anderer Stelle wird, wenn auch nur flüchtig, auf Hexerei und Schamanismus verwiesen, auf Praktiken, die den finnougrischen Völkern und Kulturen immer eigen waren. Ja, auf Aleksei Fedorchenkos magischen Silent Souls (Ovsyanki, 2010), in dem zwei Männer, Nachfahren des finnougrischen Volkes der Merja, sich auf ein uraltes Ritual besinnend, die von beiden geliebte Frau aus ihrem irdischen Dasein entlassen, verweist Regilaul auch.

Man wisse nicht, ob es die Merja wirklich gegeben habe, heisst es im Film des “Documenteurs” Fedorchenko.

Regilaul 02

Ulrike Kochs Regilaul hingegen ist, wie Die Salzmänner von Tibet (1997) und Ässhäk Geschichten aus der Sahara (2004), Dokumentarfilm in Reinkultur: eine mit Kamera, Mikrofon, Weltoffenheit und stiller Beharrlichkeit unternommene Spurensuche, welche den Verbindungen zwischen gegenwärtiger Lebensweise und früheren (archaischen) Denkwelten, Kultur und Lebensformen, Ritualen und Bräuchen nachgeht. Bei den nomadisierenden Protagonisten von Kochs früheren Filmen finden sich diese in Form von vorbuddhistischen Ritualen im Tibet, bei den Tuareg in vorislamischen Praktiken. Gemeinsam ist beiden Völkern die mündliche Überlieferung, die Weitergabe von Tradition und Wissen in Liedern, Legenden und Epen; an diesem Punkt schliesst Regilaul an Kochs frühere Werke an.

Ulrike Koch hat Regilaul in Estland gedreht, dem am Finnischen Meerbusen gelegenen Staat, der 1991 seine Selbstständigkeit erlangte und so etwas wie der Musterschüler unter den neuen Oststaaten Europas ist. Da fand, wie in Lettland und Litauen, von 1987 bis 1992 die «Singende Revolution» statt: Auf deren Höhepunkt sangen während einer Demonstration auf dem Tallinner Sängerfestplatz anno 1988 über 300 000 Menschen die unter der Sowjetherrschaft während Jahrzehnten verbotene estnische Nationalhymne. Das alte estnische Volksliedgut hat aber als wichtiger Bestandteil einer eifrigen Suche nach einer kulturellen Identität bereits früher ein Revival erlebt. Er sei im Alter von fünfunddreissig Jahren auf den Geschmack der Volkslieder gekommen, sagt der einundachtzigjährige Veljo Tormis, und zwar aufgrund seiner Begegnung mit dem authentischen Klang und Rhythmus von Hochzeitsliedern in abgelegenen estnischen Dörfern, aber auch mit dem Werk von Béla Bartók. Der nebst Arvo Pärt bekannteste Komponist Estlands ist ein Vorreiter der Regilaul-Bewegung, seine 1980 auf der Basis alter Regi-Lieder entstandenen «Eesti ballaadid» erfreuen sich in Estland heute grosser Popularität.

Regilaul 05

In Ulrike Kochs Film kommt Tormis die Funktion eines Führers zu. Er erzählt, woher die Regilauls (= Reigenlieder) kommen, wie sie entstanden, wie sie aufgebaut sind, wie sie gesungen werden – nämlich möglichst «lauerig», wie man in gut Schweizerdeutsch sagt: leierhaft eben, mit Wiederholungen und Parallelismen ins Endlos-Ewige führend. Man holt beim Singen nicht tief Atem, sondern atmet flach, rund: die Lieder haben etwas schaurigschön Monotones an sich, etwas Einlullendes, in Trance Versetzendes auch. Dabei erzählen sie aufregende, manchmal gar hochdramatische Geschichten: Die aus den «Eesti ballaadid» stammenden Lieder über die Gatten-Mörderin, das verstossene Kind, die tote Braut sind makaber, die Sommersonnenwende-Lieder voller Lebensweisheiten, und die Songs, die den Zug der Vogelschwärme begleiten, zeugen von ewiger Sehnsucht.

Es gibt eine Reihe weiterer Protagonisten wie die mit einer glasklaren Stimme gesegnete Meelka Hainsoo, der Folk-Sänger und Rockmusiker Lauri Õunapuu und der Dichter Jaan Kaplinski, die ihre Begeisterung für Regilauls, für die estnische Volksliedkultur in Worte fassen. Das ist hilfreich, nötig auch. Seine stärksten, Gänsehaut erregenden Momente aber erreicht Regilaul, wenn die Lieder und Balladen für sich sprechen. Wenn Pio Corradis phantastische Landschaftsaufnahmen sich mit den Melodien und Texten in assoziativer Montage zum poetischen Reigen fügen, der Film zur eigentlichen Doku-Ballade wird. Regilaul (vielleicht da und dort etwas zu textlastig) ist ein grossartiger, beeindruckender, in seiner feinziselierten Gestaltung becircender Film und lässt erahnen, wie unendlich “beseelt” die Welt ist, wenn man sich von der Hektik der heutigen Zeit löst und sich auf sie wirklich einlässt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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