Filmbulletin Print Logo
The tree 06

The Tree

Text: Gerhard Midding / 02. Mär. 2011

Es ist ein schweres, sperriges Gut, das der Vater während des Vorspannes durch halb Australien transportiert. «Oversize» ist seine Ladung gekennzeichnet, als würde man das nicht sofort mit eigenen Augen erkennen. Auf der Ladefläche des Lastwagens ist ein Fertighaus festgezurrt, dessen Breite beinahe die ganze Cinemascope-Leinwand ausfüllt. Sicher rangiert der Vater seine Last durch kleine Ortschaften und die menschenleere Landschaft.

Die Französin Julie Bertucelli hat ihren zweiten Film in Australien gedreht und erinnert von den ersten Bildern an daran, dass der fünfte Kontinent ein Einwandererland wie die USA ist. Die Lebensräume und ihre Ausstattung, das hat sie schon mit ihrem ersten Spielfilm Depuis qu’otar est parti bewiesen, besitzen eine enorme Bedeutung für die Regisseurin. Sie sind eine zentrale Quelle, aus der sich ihre erzählerische Sensibilität speist. In Australien unterwirft die Weite von Natur und Landschaft das menschliche Leben anderen Gesetzen. Sie erfordert eine gleichsam mobile Form von Sesshaftigkeit. Das Wohnen wird geschichts- und fundamentloser. Man muss keine Wurzeln schlagen, ein Provisorium genügt, von dem man sich leicht verabschieden kann. Das Fertighaus, das der Vater an sein Ziel bringt, wird den Boden, auf dem es steht, nur berühren, aber sich nicht darin versenken. Auch das Haus, in dem er mit seiner Familie wohnt, hat keinen Keller. Von Wurzeln wird noch zu reden sein. Verharren und Aufbruch sind zwei Pole, zwischen denen sich das Leben der Figuren in diesem bewegen wird. Auch er transportiert eine schwere, sperrige Fracht, mit der die Regisseurin ebenso umsichtig zu rangieren weiss wie der Vater in der Eröffnungsszene.

Bei der Heimkehr von seiner Fernfahrt erliegt dieser freilich einem Herzinfarkt und hinterlässt eine Witwe mit vier Kindern. Jeder von ihnen muss auf eigene Weise mit dem Verlust fertigwerden.

The tree 02

Dawn desertiert anfangs aus ihrer Mutterrolle, zieht sich tagelang in ihr Schlafzimmer zurück. Den Kindern kann sie in dieser schweren Zeit zunächst keine Stütze sein, lässt sie allein mit der Herausforderung des Alltags. Sie liefert kein Vorbild dafür, wie man trauert, und keine Anleitung für die unfassliche Aufgabe, im Kindesalter und als Halbwüchsiger das eigene Leben rekonstruieren zu müssen. Die achtjährige Simone findet einen eigenwilligen Weg, mit ihrem Schmerz umzugehen, einen, der es ihr auch erlaubt, ihren Spieltrieb und ihre Wissbegierde auszuleben. Sie hält Zwiesprache mit dem grossen Feigenbaum, der neben ihrem Wohnhaus aufragt und dessen weit ausladenden Wurzeln es fest umfangen halten. Er wird zur Trutzburg ihrer Trauer. In ihm glaubt Simone die Seele des Vaters aufgehoben. Der Titel der Romanvorlage der Australierin Judy Pascoe besiegelt dieses Einverständnis: «Our Father who art in the Tree».Wie gross ist die Seele eines Menschen, fragt sie einmal. Der imposante Wuchs des Baums scheint das Mass dafür zu geben. Er strahlt Erhabenheit aus. Tagtäglich erklimmt sie dieses neue Zuhause des Verstorbenen und vertraut ihm im Versteck des Geästs ihre Gedanken und Gefühle an. Sie hat die Gewissheit, dort Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. In Julie Bertucellis Filmen bedeutet der Tod nicht das Ende der Kommunikation, er hat nicht das letzte Wort. Bereits in Depuis qu’otar est parti, wo die verstorbene Titelfigur in erfundenen Briefen gleichsam am Leben erhalten wird, setzen Verlust und Abwesenheit eine Phantasie frei, die die Grenzen überschreitet. Die Phantasie eröffnet auch in The Tree die Möglichkeit einer therapeutischen Erfahrung, eines Heilungsprozesses. Auch Dawn gerät trotz anfänglichen Widerstands in den Bann des Baumes: Die überforderte Mutter nimmt die Lehre ihrer Tochter an, wie der Einsamkeit beizukommen ist.

The tree 08

Die Symbolik ist im Kino in Verruf geraten. Wir misstrauen ihrer Lesbarkeit, weil sie ihre Absichten allzu deutlich zu erkennen gibt; sein zentrales Sinnbild führt The Tree ja bereits im Titel. Bertucelli hat keine Scheu, sich seiner metaphorischen Erzählkraft anzuvertrauen, die der Idee des Wachsens und Gedeihens eine solide Konsistenz verleiht. Stets bedenkt sie die Doppelwertigkeit der Metapher, der Baum schillert zwischen Animismus und Konkretion. Denn entkleidet man die Symbole ihrer übertragenen, uneigentlichen Bedeutung, bleibt ihre Anschaulichkeit. Bertucellis Film entfesselt einen sanften Furor der Konkretion, ist auf emphatische Weise einem Gestus der Präsentation verpflichtet. Es ist eine schöne, animistische Verknüpfung, wenn Simone in einer Szene Ameisen betrachtet, die über das Grab ihres Vaters krabbeln und sich dann nach einem Umschnitt diese Bewegung im Baum fortzusetzen scheint. Der Zuschauer weiss das Mädchen in Gesellschaft, im Geleit einer Präsenz, die verborgen ist und dennoch sichtbar werden kann.

Derlei Szenen sind ein Prüfstein für moderne Sehgewohnheiten. Aus den Western John Fords sind uns solche Beschwörungen von Transzendenz vertraut. Die Innigkeit, mit der John Wayne in She wore a Yellow Ribbon am Grab seiner Frau deren Rat sucht, besitzt eine Selbstverständlichkeit, die nicht unseren rationalen Widerspruch weckt. Im Gegenwartskino führt ein solcher Moment den Zuschauer unweigerlich an einen Scheideweg. Bertucelli lässt ihren Film zwischen dem Prinzip des Möglichen und des Märchenhaften pendeln. Der Baum scheint regelmässig in das Leben der Hinterbliebenen einzugreifen. Nachdem Dawn ein erstes, heimliches Rendezvous mit ihrem neuen Arbeitgeber hat, bricht ein Ast und stürzt in ihr Schlafzimmer. Bald bedrohen die Wurzeln das Weiterleben im Haus so massiv, dass er gefällt werden soll. Bertucellis Fabel kulminiert in einem Orkan, bei dem der Widerstreit zwischen Verharren und Aufbruch von den Kräften der Natur entschieden wird. Am Ende des Films steht wie an seinem Anfang eine Autofahrt. Sie markiert den zuversichtlichen Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Das Leben kann erst in einer geraden Linie weitergehen, nachdem sich ein Kreis geschlossen hat.

The tree 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

05. Juli 2018

Ni juge, ni soumise

Der belgische Dokumentarfilm über eine aufmerksame, direkte und humorvolle Untersuchungsrichterin, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zurückhält, ist höchst unkonventionell, mit Sinn für das Absurde in der Comédie humaine.

Kino

22. Mai 2019

Aladdin

In der Neuverfilmung von Disneys Aladdin wird ein weiteres Mal der Dschinn zum Star der Show, während die Liebesgeschichte dem unbedingten Wille zur Macht zum Opfer fällt.