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Corpo celeste 01

Corpo celeste

Was für ein Talent! Unschwer könnte man sich ja bekannte, brave, bunte Bilder spiritueller und körperlicher Not als Spielfilmerstling zusammenreimen, der von einem Mädchen erzählt, das im tief klerikalen Milieu des Mezzogiorno an der Schwelle zum Erwachsensein tapfer seinen Weg sucht.

Text: Martin Walder / 25. Apr. 2012

Was für ein Talent! Unschwer könnte man sich ja bekannte, brave, bunte Bilder spiritueller und körperlicher Not als Spielfilmerstling zusammenreimen, der von einem Mädchen erzählt, das im tief klerikalen Milieu des Mezzogiorno an der Schwelle zum Erwachsensein tapfer seinen Weg sucht.

Corpo celeste von Alice Rohrwacher (jüngere Schwester der Schauspielerin Alba Rohrwacher) ist ein Erstling und erzählt genau davon. Aber mit welch subtilem Gespür für das Innenleben der kleinen Protagonistin. Mit welchem Reichtum an Farben und Facetten im Sozialen. Mit welch natürlicher Genauigkeit des Hinschauens und einfühlsamer Distanz dem süditalienischen Kosmos gegenüber, den wir als gänzlich ungesichertes Gelände entdecken! Vielleicht brauchte es dazu eben den Hintergrund eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter wie im Falle der Rohrwacher-Schwestern?

Reggio di Calabria, wuchernde Metropole. Das Mittelmeer liegt vor der Tür, aber den Fisch kauft man lieber importiert aus dem Ozean; zu viele Marokkaner seien vor Ort schon ertrunken, heisst es am Küchentisch. Mit derlei Alltagsvignetten verblüfft der Film ein übers andere Mal. An den vermüllten Unorten ausgetrockneter Wasseradern mitten in der von Autobahnlärm durchtosten Stadt beginnt Corpo celeste bei Nacht quasi dokumentarisch. Der Gestus ist neorealistische Tradition und pasolinischer Furor, in der Präzision – weniger in deren eher brechtisch didaktischer Linienführung – den Frères Dardenne nahe.

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Anstelle eines strammen Plots folgen wir den unentwegt schweifenden Beobachtungen Martas: Nach zehn Jahren Schweiz kehrt sie mit Mutter und älterer Schwester zu den nächsten Verwandten in den Süden zurück. Die Regisseurin spricht in ihrem Begleittext (zu dem vom Tessiner Fernsehen koproduzierten Film) den aktuellen italienischen Trend der Rück-Emigration an. Denn für die nun dreizehnjährige Marta ist praktisch fast alles neu. Der Katechismus-Unterricht der Pfarrhelferin Santa für die anstehende Firmung offeriert ihr soziale Integration, so, wie der ehrgeizige Pfarrer Don Mario für Unterkunft gesorgt hat, dafür Miete einzieht und im Rahmen kommender Wahlen bei seinen Schäfchen schamlos für den opportunen Kandidaten Unterschriften sammeln lässt. Marta sagt nicht viel, aber sie schaut.

Und wie sie schaut! Die hellwachen Augen der kleingewachsenen Yle Vianello – mit rotfleckigen Wangen selber noch ein halbes Mädchen mit winzigen Brüsten (die Marta mit dem Büstenhalter der Schwester drapiert) und mit der Stimme schon einer Erwachsenen – diese starken, prüfenden Augen lassen einen nicht los, sie sprechen Bände, wenngleich stumm erst ahnend wovon. Zum Beispiel von der Heuchelei der Welt, ihrer Grausamkeit und Borniertheit, der Pseudomodernität der Kirche in Neonlicht und der Show, die Don Marios und Santas junge Glaubenskriegerinnen und -krieger in zu engen Jeans und aufgelierter Igelfrisur mit stumpfem Blick zum Lobe des Herrn absolvieren: «Voglio scegliere Gesù!» plärrt es im Rhythmus daher.

Dafür wird die Übersetzung der auswendig gelernten Katechismuszeile mit den letzten Worten des Gekreuzigten den Jungen vorenthalten: «Eli, Eli, lama sabachthani – Herr, Herr, warum hast du mich verlassen?» Der alte Don Lorenzo im verlassenen Küstennest Roghudi, wo Don Mario und Marta ein figürliches Holzkreuz für den Empfang des Bischofs abholen gehen, hat dafür seine eigene, zornige Variante parat: Es sei der Schrei des wütenden, von einer Horde nach Wundern gierenden Menschen und stupiden Jüngern angeekelten Jesus, doziert er dem Mädchen. Marta wischt, wieder allein, sorgfältig allen Dreck und Staub von der Statue, indem sie mit den Fingern über die geschnitzten Gliedmassen streichelt: Gesicht, Arme, Bauch bis zum Lendenschurz, Schenkel, zurück zum Hals empor … der [corpo celeste, der göttliche Körper, erscheint dem Mädchen sehr konkret und sehr wahr. Dafür muss er dann bei einem brüsken Stopp auf der Küstenstrasse prompt büssen und schliddert vom Autodach über die Leitplanke tief hinunter in die Brandung. Dort schwimmt er und schaut mit ausgebreiteten Armen gen Himmel. All die sexuellen Konnotationen sind wunderbar diskret in die Geschichte eingearbeitet, etwa, wenn Don Mario – Marta sitzt nebenan – aus dem Autoradio Schuberts «Heideröslein» lauscht – «musst es eben leiden» …

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Man sage nicht, das sei nun doch ein gar katholischer Film geworden. Alice Rohrwacher gelingt es mit grossartigen Darstellern wie Pasqualina Scuncia als Santa oder Salvatore Cantalupo (unvergesslich aus Gomorra) in der Rolle des Don Mario schwerelos und prägnant, Martas [éducation sentimentale in einer von Wandel und Verunsicherung geprägten, irgendwo selber noch adoleszenten Welt zu erzählen. Marta ist unsicher, ihre überforderte, in einer Bäckerei schuftende, selber zärtlichkeitsbedürftige Mutter ist es, der ehrgeizige Priester, dessen Handy ständig klingelt, ist es, seine Haushälterin Santa sowieso. Die Kirche ist längst nicht mehr die bergende Nische, als die sie sich ihren Mitgliedern noch autoritär proklamiert. Als Santa von der möglichen Wegbeförderung ihres Don Mario erfährt, wirft sie sich in einem unbeobachteten Moment verzweifelt auf sein offenes Bettlaken – und unser wohlfeiles Urteilen über die grässliche Heilige fällt in dem einen Moment in sich zusammen.

Solcherart verknappt und alles sagend sind die vielen Geschichten dieses Films. Selbst dort, wo er biblische Metaphern benutzt, evoziert er sie in der realistischen Beiläufigkeit von Hélène Louvarts Handkamera. In der allerletzten Einstellung zeigt uns Alice Rohrwacher, dass das Lebendige in der Wahrnehmung des Elementarsten sich als Wunder neu zu manifestieren hätte: vielleicht dem in Martas Hand sich zart schlängelnden Strandwurm, der das Mädchen ganz leise glücklich auflachen lässt, bevor die Leinwand dunkel wird.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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