Filmbulletin Print Logo
Exercice de l etat 01

Le ministre – L'exercice de l'etat

Schoeller nimmt die Kontinuität des Politischen in den Blick und ist dabei überaus empfindsam für die Aura der Dekors, in denen sie sich zuträgt und die viele Generationen von Politikern haben kommen und gehen sehen. Seinen Darstellern hat er nie verraten, ob es sich um eine Links- oder eine Rechtsregierung handelt. Der Titel kündigt an, dass es gewissermassen universell um die Ausübung von Staatsmacht geht.

Text: Gerhard Midding / 25. Juli 2012

Angesichts des Unvorhergesehenen empfiehlt es sich in der Politik, planvoll vorzugehen. In den Ardennen ist ein Bus mit Schulkindern verunglückt. Es steht ausser Frage, dass sich der französische Verkehrsminister Bertrand Saint-Jean trotz nachtschlafender Zeit unverzüglich zum Unfallort begeben wird. Die Zahl der Toten und Verletzten ist hoch; ihr galt seine erste Frage, als ihn der nächtliche Anruf erreichte. Er muss in dieser Situation Geistesgegenwart beweisen und Anteilnahme mit den Opfern demonstrieren. Die Medien sind unterrichtet und veranstalten ein Wettrennen, wer als Erster zur Stelle ist. Im Dienstwagen spricht seine PR-Beraterin Pauline mit dem Minister die geeigneten Worte durch, die er vor den Fernsehkameras und Radiomikrofonen finden muss. Der Präfekt des Departements erwartet ihn bereits.

Saint-Jean nimmt sich einen Moment Zeit, um in einem Zelt allein Andacht zu halten vor den Leichen der Schulkinder. Bevor er vor die Kameras treten kann, nimmt Pauline ihn und den Präfekten zur Seite, damit sie rasch ihre Krawatten tauschen können. Nun harmonieren die Farbtöne besser im Scheinwerferlicht der Kameras. «Die Ardennen tragen Trauer», beginnt Saint-Jean sein Statement und versichert der Öffentlichkeit, dass er alles Menschenmögliche unternehmen werde, um die Umstände des Unglücks zu klären und zu verhindern, dass dergleichen noch einmal passiert. Er ist sich nicht sicher, ob er am Schluss die richtige Formulierung gewählt hat, aber Pauline beruhigt ihn. Später, auf dem Rückweg nach Paris, fordert sie den Fahrer auf, anzuhalten, denn der Minister muss sich übergeben. In Paris wird er kurz darauf einem Radiomoderator Rede und Antwort stehen müssen, der nach einigen Fragen zum Busunglück jedoch bald zum Tagesgeschäft übergeht, namentlich zum aktuellen Streit im Kabinett, ob die Bahnhöfe Frankreichs privatisiert werden sollen oder nicht.

Exercice de l etat 02

In Krisensituationen, wird es später im Film heissen, spielt die Wirklichkeit keine Rolle. Was zählt, sind die Unmittelbarkeit der Reaktion und die Art, wie sie kommuniziert wird. Von Berufs wegen weiss Pauline genau, dass das Image in der Politik mehr zählt als die Substanz. Ob dies für Saint-Jean einen Widerspruch oder gar Zwiespalt darstellt, zu welchem der beiden Pole er eher tendiert, ist eine Frage, die den Zuschauer nach dem dramatischen Auftakt von Pierre Schoellers Film fortan heimsuchen soll. Er erzählt von der Politik ohne jenen genügsamen Zynismus, der in ihr üblicherweise nur ein verlogenes Geschäft, ein Schachern um Wählerstimmen und Machterhalt entdecken mag. Er gewährt Innenansichten vom Alltag eines Kabinetts, die realitätsnah anmuten und zugleich eine grosse Entschlossenheit zur Fiktion verraten. Das fängt schon damit an, dass er die Rolle des französischen Ministers einem Belgier anvertraut hat – Olivier Gourmet, jener heroisch verlässlichen Präsenz in den Filmen der Brüder Dardenne, die als Co-Produzenten des Films fungieren. Seinen Darstellern hat Schoeller nie verraten, ob es sich um eine Links- oder eine Rechtsregierung handelt. Er nimmt die Kontinuität des Politischen in den Blick und ist dabei überaus empfindsam für die Aura der Dekors, in denen sie sich zuträgt und die viele Generationen von Politikern haben kommen und gehen sehen. Der Originaltitel, L’exercice de l’état, kündigt an, dass es gewissermassen universell um die Ausübung von Staatsmacht geht.

Diese findet sich freilich, zumal in Krisenzeiten, fest im Griff der Ökonomie. Wie jeder anständige Film über Politik handelt auch Schoellers zweite Regiearbeit für das Kino von der Ohnmacht. Seine Protagonisten müssen zwar Informationen in Entscheidungen umsetzen, die enormen Einfluss auf das Leben der Bürger haben, aber ihre Handhabe ist begrenzt. Mithin gebricht es ihr an Legitimität. Aus dem Blickwinkel der Ökonomie erscheint die Privatisierung der Bahnhöfe als Abschied von einem kostspieligen Anachronismus. Saint-Jean hat sich stets dagegen ausgesprochen. Aus der Frage, wie belastbar seine Worte sind, wie wehrhaft er sich gegenüber der Kabinettsräson erweisen wird, bezieht Schoellers Film denn auch einen beträchtlichen Suspense. So ist er auch lesbar als ein Bildungsroman. Saint-Jean agiert im Einflussbereich von vor allem zwei Impulsgebern, deren Pragmatismus je unterschiedliche Grade der Geschmeidigkeit kennt: seinem persönlichen Referenten Gilles und Pauline. Seine PR-Beraterin ist zwar mitunter von schonungsloser Offenheit («Du bist verschwommen, du hast als Minister kein klares Projekt.»), Gilles verkörpert hingegen Verlässlichkeit und eine umsichtige, sturmerprobte Integrität. Sie legen ihm seine Worte in den Mund.

Exercice de l etat 03

Dass Saint-Jean dennoch nicht als deren Marionette erscheint, sondern als Subjekt, verdankt sich wesentlich der Darstellung Olivier Gourmets. Er spielt den Minister als einen Menschen, der von der Politik besessen ist wie von einem Dämon. Er existiert in einem Zustand der beinahe unausgesetzten Anspannung, des zuverlässigen Adrenalinausstosses. (Julien Hirschs Lichtsetzung lässt oft im Unklaren, zu welcher Tages- oder Nachtzeit die Szenen im Kabinett spielen.) Saint-Jean stammt nicht aus dem «Serail», dem inneren Kreis, aus dem sich die französische Politik gemeinhin speist, er gehört weder einer privilegierten Familie an noch ist er Absolvent der Eliteschule ENA. Er hat sich etwas Ungeschliffenes erhalten, sein Handeln ist abhängig von Stimmungen und Launen, er ist zu Gesten persönlicher Grosszügigkeit ebenso fähig wie zu cholerischen Anfällen. Seine Schutzmechanismen sind (noch) nicht so ausgebildet wie die seiner Kabinettskollegen: Die Maske der Souveränität steht ihm noch nicht endgültig. Schoeller und Gourmet entwickeln die Figur entschieden aus ihrer Körperlichkeit. Eingangs erwacht Saint-Jean aus einem erotischen Albtraum mit einer Erektion, im Verlauf des Films übergibt und verschluckt er sich, betrinkt sich heillos mit seinem neuen Fahrer und dessen Frau, die Schuhe sind dem in ständiger Bewegung begriffenen Minister oft zu eng; der Sex, zu dem ihn seine Frau am Morgen ihres Geburtstags schlaftrunken verführt, ist kurz, aber nicht ohne Leidenschaft; einen für seine weitere Karriere wichtigen Anruf schliesslich nimmt er auf der Toilette entgegen.

Exercice de l etat 04

Wie sehr ihn die Macht verlockt und wie gross seine Angst ist, von ihr verschlungen zu werden, führt der Traum vor, mit dem Schoeller seinen Film eröffnet: Vermummte Gestalten, die aussehen wie die Marionettenspieler im japanischen Bunraku-Theater, richten in Windeseile ein Kabinettszimmer ein, in das eine unbekleidete Frau eintritt, die sogleich einem Krokodil ihre Blösse darbietet und schliesslich in dessen Maul kriecht. Die maskierten Akteure bereiten eine Bühne, auf der ein Schauspiel stattfinden wird. Die Verbindung, die der Film zur Realität herstellt, wird fortan immer wieder brüchig werden. Die ausserordentliche Tondramaturgie des Films (für die es im Februar einen von drei wohlverdienten Césars gab; die anderen gingen an das exzellente Originaldrehbuch und den vorzüglichen Nebendarsteller Michel Blanc) spielt mit dem Motiv der Entrückung. Regelmässig legen sich verschiedene akustische Schichten übereinander (darunter die erstaunlich instrumentierte, ebenso elektronische wie “organische” Musik von Schoellers Bruder Philippe). In einer der bemerkenswertesten Szenen tritt die Trauerpredigt eines Pfarrers hinter der inneren Stimme des Ministers zurück. Zuerst in Gedanken und dann flüsternd sagt er die Worte, die er selbst für diesen Anlass vorbereitet hatte. Sie stammen weder von seiner PR-Beraterin noch von seinem Referenten. Sie werden sein Geheimnis bleiben, und das des Zuschauers.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

01. Okt. 2018

Lazzaro felice

In einer abgelegenen Bergregion schuften die Menschen noch wie vor hundert Jahren. Ob sie der Einbruch der Gegenwart erlösen wird?

Kino

27. Juli 2015

White God

Wer mit der Serie Lassie aufgewachsen ist, weiss, dass das Heimweh eines Hundes einen zu Tränen rühren kann. Und es ist kein grosses Geheimnis, dass das nur deshalb so gut funktioniert, weil Tiere mehr über die menschliche Gefühls- und Verhaltenswelt erzählen als über ihre eigene. Kornél Mundruczó nutzt diese Strategie in White God und stellt der 13-jährigen Lili den treuen Weggefährten Hagen zur Seite