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No man zone 01

No Man's Zone / Mujin chitai

Fujiwara ist im April 2011 nach der Katastrophe am 11. März mit seinem Team durch die gesperrte Zwanzig-Kilo-meter-Zone gestreift, um das Unfassbare mit einer digitalen Handkamera festzuhalten, auch wenn ihm bewusst ist: «For the last hour we’ve been watching images, just images.»

Text: Erwin Schaar / 25. Juli 2012

The film is a requiem, an elegy, to a landscape that is lost, lives that are lost, it is not just politically critical of the government today, but of the entire policy of the Japanese government in becoming a modern nation.
Toshi Fujiwara

Ein Rundschwenk von 360 Grad zeigt die Bilder einer Ansiedlung. Beinahe jedes Haus ist vollkommen zerstört, eine Trümmerlandschaft, in der Ferne die Schornsteine des Atomkraftwerks von Fukushima, auf die uns die Stimme der armenischlibanesisch-kanadischen Schauspielerin Arsinée Khanjian aufmerksam macht. Sie spricht den Text, der vom Regisseur zusammengestellt wurde, in elegischem Tonfall. Und begleitet werden die Bilder einer exorbitanten Katastrophe, bei der ein Erdbeben, ein Tsunami und die Zerstörung einer Atomanlage zusammenwirkten, von der emphatischen Musik Barre Phillips’.

Fujiwara – 1970 geboren, Kritiker und Filmemacher (unter anderen We Can’t Go Home Again, 2006) – ist im April 2011 nach der Katastrophe am 11. März mit seinem Team durch die gesperrte Zwanzig-Kilo-meter-Zone gestreift, um das Unfassbare mit einer digitalen Handkamera festzuhalten, auch wenn ihm bewusst ist: «For the last hour we’ve been watching images, just images.»

Wir wissen, dass Zerstörungen und Unglücke etwas Spektakuläres an sich haben, das unsere Neugierde weckt. Unser aufdringliches Hinschauen ist zwar tabuisiert, aber der Reiz des Verbotenen stimuliert. Da muss schon die Wut auf Verantwortliche hinzukommen, damit die moralische Position gewahrt bleibt, und Fujiwara erkennnt: «Anger becomes a way to hide our fascination.»

No man zone 02

Zerstörte Kleinstädte wie Ukedo und Iitate, Schiffe wie von Riesenhand aufs Land geworfen, Strassen unterspült. Meereswellen schlagen gegen die Trümmer einer einst belebten Küste, an der sich die Alltäglichkeit des Lebens mit Arbeit und Hoffnung und Vergnügen und Freude, aber auch Trauer abspielte. Jetzt gibt es noch ein paar Menschen, die von ihrer Heimat, ihrem Besitz nicht lassen wollen, eine irreale Hoffnung im Herzen, ungetrübt vom Verstand, dass sie das Kaputtgegangene wieder in den Zustand, der ihr Leben ausmachte, zurückverwandeln könnten.

Da hantieren vom Staat Beauftragte in ihrer weissen Schutzkleidung wie Geister in der Gegend, nur von weitem gefilmt, nicht vom Filmemacher befragt, wahrscheinlich bewusst in diese unnahbare Existenz gestellt.

Aber es gibt auch Landschaften und Strassen und Häuser, die keine Zerstörung aufweisen, denen aber eine beängstigende Ruhe innewohnt. Die nicht sichtbare Zerstörung der atomaren Verstrahlung: Sie ist die wahre Apokalypse. Die Stille der blühenden Natur, die in uns ein Bild des Friedens und der Entspannung erzeugt, verweist auf die Zwiespältigkeit unserer Wahrnehmung, über deren Täuschung die Verantwortlichen wissen, um sie trotzdem auszublenden.

Fujiwaras Film lässt, auch wenn wir sein Anliegen anerkennen, trotzdem fragen, ob seine Konzeption dem Ereignis adäquat ist. Gewiss, er bleibt in Erinnerung, der Mann, der bei der Grabstätte seiner Ahnen im Gespräch mit dem filmischen «Stalker» – wie er in Anlehnung an Tarkowskijs Film immer wieder bezeichnet wird – apathisch die Fragen nach seiner Zukunft beantwortet. Ein eindrücklicher Dialog, der die Zerstörung von Menschen zeigt. Aber gar manches Mal hätte ich eine kreischende Zerstörung der Bilder gewünscht, um nicht in einem elegischen Sumpf zu verkommen. Wir können doch eigentlich nicht so reagieren wie die Kühe, die verlassen in der Landschaft um Fukushima herumstehen. Ein Requiem ist für die Toten, doch die Probleme bedrängen weiter ohne Unterlass die Lebenden.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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