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Rouilles 01

De rouille et d'os

Die Präsentation des Films in Cannes begleiteten eine Menge Aufmerksamkeit für Audiard und zahlreiche Lobeshymnen, aber auch vereinzelte Einwände von Kritikern, die dem Film Kolportage vorwarfen. Und die Interpretationen nehmen sich in ihrer Vielfältigkeit fast aus wie Kapitel aus einer gesellschaftlichen Enzyklopädie.

Text: Erwin Schaar / 26. Sep. 2012

Es hat sich so ergeben, dass in der Juliwoche, in der der Rezensent den neuen Film von Jacques Audiard beim Münchner Filmfest sehen konnte, aus Klagenfurt auf 3sat die Lesungen zum Ingeborg-Bachmann-Preis übertragen wurden. Wieder erwiesen sich die Auseinandersetzungen um die richtige Beurteilung von künstlerischen Produkten als altes und immer neues Schauspiel. Abgesehen vom akademischen Wortgeklingel, das eine Ordnung im Bereich des ästhetisch Formalen mit sogenannten Fachbegriffen vorgibt, ist es doch die persönliche Einstellung zu einer Geschichte, die die Sympathien bestimmt, die dann bei Gestaltungsfragen die Diskussionen anregen.

Diese etwas abseitige Vorbemerkung zu einem Film ergab sich aus dem Staunen über die gekonnte Inszenierung einer Geschichte, die ungebrochen Fakt auf Fakt vorstellt und – sofern man selbst in der richtigen Verfassung ist – ungetrübt vom ästhetisch avantgardistischen Verlangen bei der Wahrnehmung kaum Zweifel schürt. Die Präsentation des Films in Cannes dieses Jahr begleiteten eine Menge Aufmerksamkeit für Audiard und zahlreiche Lobeshymnen, aber auch vereinzelte Einwände von Kritikern, die dem Film Kolportage vorwarfen. Und die Interpretationen nehmen sich in ihrer Vielfältigkeit fast aus wie Kapitel aus einer gesellschaftlichen Enzyklopädie, obwohl doch Audiard ganz einfach erklärt hat, was er und seine Mitautoren wollten: «Nous voulions un film sur deux personnages qui ne sont pas faits pour aimer. Stéphanie, parce qu’elle a une certaine idée d’elle-même, Ali, parce qu’il n’a pas ce désir-là. Pour eux, les choses se vivent comme dans l’amour courtois. Ou presque …»

Aber nun mal der Reihe nach: Wir sehen den fünfundzwanzigjährigen Ali mit seinem fünfjährigen Sohn Sam im Zug. Sie sind nach Antibes unterwegs, wo Ali Arbeit suchen und seinen Sohn bei seiner Schwester unterbringen möchte. Eine erste Charakterisierung der Figur Ali ergibt sich, wenn er für seinen hungrigen Sohn die Reste von Essen zusammensucht, die Mitreisende zurückgelassen haben. Ali findet Beschäftigung als Türsteher in einem Club und macht dort die Bekanntschaft von Stéphanie, der er behilflich ist, als sie bei einer Schlägerei verletzt wird. Stéphanie ist eine durchsetzungsfähige Frau, die als Trainerin von Killerwalen im Marineland d’Antibes arbeitet. War aber keine Verbindung von Ali und Stéph, wie sie von allen genannt wird, abzusehen, so bringt ein schwerer Unfall während der Show mit den mächtigen Tieren Stéph um beide Beine, und die Beziehungsgeschichte nimmt ihren Lauf. Ali, zu seinem Sohn eher distanziert eingestellt, entwickelt Gefühle bei der Hilfe für eine behinderte Frau. Sie kommen sich immer näher, bis zum Geschlechtsakt, was aber für Ali geringere Bedeutung hat als für Stéph, denn er erledigt seine sexuellen Bedürfnisse wie es ihm gefällt. Trotzdem, die vielfältigen Hilfestellungen für die Beinamputierte lassen eine Nähe entwickeln, durch die auch Sam immer mehr in die Beziehung eingebunden wird. Er hat sich seine emotionale Zufriedenheit sonst bei den Hunden von Alis Schwester Anna geholt.

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Der körperlich starke Ali verdient so nebenbei bei wilden Boxkämpfen, bei denen auf den Sieger gewettet werden kann, sein Geld, und Stéph übernimmt die Wettverhandlungen bei den brutalen Faustkämpfen. Sie hat mit körperfunktionalen Prothesen Lebensmut zurückgewonnen. Und ihre psychische Entwicklung hat auch bei Ali eine Bereitschaft zur Verantwortung entstehen lassen. Der Film endet nun ganz schnell mit Alis Gewinn einer Meisterschaft, und alle drei verlassen verheissungsvoll durch eine Tür den Set: «Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt» hat Tucholsky einmal gedichtet.

Aber mit dieser in groben Zügen geschilderten Geschichte ist es bei Audiard nicht getan. Es gibt einige Seitenstränge der Handlung, die vielleicht der Dramatik dienen, nicht unbedingt der Story zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen. Der aufdringlichste Einfall dürfte wohl der Winterspaziergang von Ali und Sam sein, bei dem der Junge plötzlich in einem Eisloch verschwindet und Ali mit der Kraft seiner Fäuste gefordert ist, gegen das Eis vorzugehen.

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Jacques Audiard – berühmt und geachtet durch De battre mon cœur s’est arrêté (2005) und Un prophète (2009) – hat zusammen mit Thomas Bidegain das Drehbuch nach dem Short-Story-Band «Rust and Bone» (2005) des Kanadiers Craig Davidson verfasst und die Geschichte in Frankreich angesiedelt. Beide berufen sich, cinephil wie die Franzosen sind, auf Vorbilder wie Terms of Endearment von James L. Brooks (1983) und vor allem auf Freaks (1932) von Tod Browning. Audiard meint, dass vor allem die Horror-Filme der dreissiger Jahre und die Film-noir-Thriller der Vierziger Krisen der Gesellschaft angezeigt hätten, und ihr neuester Film sollte auch ein Zeugnis für die gegenwärtige ökonomische Krise werden. Mag sein, der Arbeit suchende Ali, die unerlaubten Überwachungskameras, die Alis Schwester den Job kosten, die illegalen Wetten bei den Box-Schlägereien bieten Hinweise. Doch eher beeindruckt doch das inszenatorische Können Audiards: sein Wissen um das Tempo der Schnitte, wenn ein ruhiger Verlauf gefragt ist oder die Dramatik überzeugen soll, der Wechsel von der Grossaufnahme in die Halbtotale, in der eine Szene gebaut werden muss, um die Orientierung für den Plot zu gewährleisten, der unterstützende Einfluss des musikalischen Backgrounds. Und vor allem der sensible Einsatz eines Stars wie Marion Cotillard überzeugt, deren erzwungene neue körperliche Erfahrung zur grossartigen schauspielerischen Leistung gerät. Mit ihrem Können und ihrer Führung durch die Regie wird auch die Figur des Ali in Gestalt des belgischen Schauspielers Matthias Schoenaerts von Bedeutung, obwohl er in der Story eigentlich nur die “Entwicklung” einer Figur, wie sie Stéph darstellt, zu begleiten und zu begründen hat. Für Audiard ist es gestalterisch herausfordernd, einem Star die Beine zu amputieren: Je begabter dessen Spiel ist, desto beeindruckender würde dadurch die Präsenz! Zudem macht die digitale Bildmanipulation einen solchen Eindruck, dass man gar oft auf die grosse Handlung vergisst, um Cotillard in ihrem Spiel zu verfolgen.

Trotz aller kinematographischen Meisterschaft darf schon darüber nachgedacht werden, ob der ästhetische Anspruch, der auch ein moralischer ist, eingelöst wird. Schliesslich geht es um die Schilderung von Schicksalen in einem konkreten sozialen Umfeld. Auf der theatralischen Ebene sicher gelungen ist die Gegenüberstellung eines psychischen Krüppels und einer zum körperlichen Krüppel Gewordenen. Und Stéphs plötzliche Behinderung erfährt auch durch den Wandel ihres bislang meist nur machohaften Mitspielers die Möglichkeit, mit ihrem Schicksal eine Art Frieden zu schliessen. Das ist der berührende Punkt der Geschichte, der uns in der Handlung aufgehoben sein lässt. Ob die soziale Situation der Umwelt nicht eher nur für die Konstruktion der Story von Bedeutung ist und nicht einem wie immer gearteten Engagement entsprungen, ist bedenkenswert, denn die Arbeitslosigkeit Alis, die Arbeitssituation seiner Schwester, das Schaugewerbe mit den Killerwalen geben zwar der Handlung ihre Stützen, berühren aber kaum …

Man sollte sich mit den Ergebnissen zufrieden geben, die ein unterhaltsames und dennoch gefühlvolles Kinovergnügen bieten kann: eine kurzfristige Beschäftigung mit Lebenskrisen und ein Gefallen beim Beobachten einer Beziehung, von der Audiard meint, dass Stéphs Behinderung diese Liebe erst erotisch macht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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