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Before midnight 01

Before Midnight

Richard Linklater und seine Schauspieler Ethan Hawke und Julie Delpy waren uns diesen Film schuldig. Zum dritten Mal nun im Abstand von jeweils neun Jahren haben sie die ursprünglich von Linklater und Kim Krizan erdachte Liebesgeschichte von Céline und Jesse gemeinsam weitergesponnen, zu fiktiven longtime companions auch von uns gemacht.

Text: Martin Walder / 12. Juni 2013

Bleibt er? Bleibt er nicht? Man erinnert sich – es war vor nunmehr neun Jahren: Naturnotwendig sind wir in Paris, der Stadt der Liebe, wo Céline lebt. Die engagierte Ökologin und Jesse, amerikanischer Bestsellerautor auf Lesereise, treffen sich nach Jahren zufällig wieder. Zufällig? Lassen wir die existenzielle Frage mal beiseite. Die damals gut Dreissigjährigen sind auf der Seine spazieren gefahren, es ist noch etwas Zeit bis zu Jesses Abflug abends zurück in die Staaten. In Célines Wohnung werden sie von der Katze begrüsst, die sich an sie schmiegt. Céline singt Jesse auf der Gitarre ein Lied. Er ist verheiratet. Das Flugzeug wartet. Jesse hält es schier nicht aus. Wir auch nicht. Die Zeit rückt unerbittlich vor.

Vor Sonnenuntergang war Before Sunset (2004) zu Ende. Und ihre Romanze? Ist Jesse damals geblieben? Ist er nicht geblieben? Nun wissen wir es: Er ist! Die beiden sind ein Paar geworden. In jener Nacht in Paris sind Ella und Nina entstanden, inzwischen zwei süsse Blondschöpfe. Jesse hat sich von seiner Frau in den USA scheiden lassen und ein permanent schlechtes Gewissen seinem halbwüchsigen Sohn Hank gegenüber, von dem er sich nach gemeinsamen Ferien in Griechenland eben verabschiedet. Céline und die Girls warten im Auto vor dem Terminal. Alles gut? Nein. Denn genau so kommen in die Jahre gekommene Beziehungskisten daher: beunruhigend leise. Und so fängt Before Midnight (2013) an. Der Film ist wiederum ein seltenes Bijou an federleichter Ernsthaftigkeit dem gegenüber, was unser einziges Leben ist.

Richard Linklater und seine Schauspieler Ethan Hawke und Julie Delpy waren uns diesen Film schuldig. Zum dritten Mal nun im Abstand von jeweils neun Jahren haben sie die ursprünglich von Linklater und Kim Krizan erdachte Liebesgeschichte von Céline und Jesse gemeinsam weitergesponnen, zu fiktiven longtime companions auch von uns gemacht.

Before Sunset war der zweite Teil. Angefangen hatte alles in Before Sunrise (1995), im Intercity-Zug vor Wien. Céline hat wegen eines keifenden Ehepaars den Sitzplatz gewechselt. Dort sitzt Jesse und liest. Sie will eigentlich weiter nach Paris, er anderntags von Wien aus zurück in die USA. Die Zeit läuft gegen die zwei, die längst Feuer gefangen haben. Man steigt dann doch zusammen aus und lässt sich einen Abend und eine Nacht lang durch die Postkartenkulisse treiben. Das unbeschreibliche Flair des reinen Moments, wenn man Mitte zwanzig und verliebt ist. Alles ist möglich. Auf dem Riesenrad im Prater küssen sie sich zum ersten Mal. «The Danube over there», da drüben ist die Donau, doziert sie. «That’s a river, right?», sagt er, der Amerikaner. Ob das etwas würde werden können?

Es konnte. Der herzzerreissende Abschied anderntags am Perron durfte kein endgültiger sein. Zu sehr sind die Figuren Linklater, Hawke und Delpy glücklicherweise ans Herz gewachsen. Der Anfang war nichts als redseliger keuscher Charme in dem Moment, da die Zeit stehen zu bleiben scheint, wenn der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr vor der vollen Minute einen Moment lang zitternd innehält. Wenn die illusionslos lockere Lebenshaltung der damaligen Slacker-Generation, für die Linklater steht, durch den Coup de foudre wunderbar Lügen gestraft wird. Mit den Figuren ist das Trio seiner Erfinder seither achtzehn Jahre älter geworden, Regisseur und Schauspieler haben selber Kinder. Manches spielt da aus den real mitgewachsenen Biografien in die langen, sprühenden Filmdialoge zwischen Céline und Jesse hinein.

Before midnight 02

Richard Linklater experimentiert gerne mit visuell verfremdenden Erzählweisen. Im Jahre 2001 tauchten Céline und Jesse unverkennbar ein paar Minuten lang in seinem Waking Life auf, der philosophischen Reise eines schlafenden Mannes durch Traum und Realität: Im Apartment eines amerikanischen Wohnblocks lagen sie Seite an Seite und redeten, als wären sie nach der Romanze in Wien doch ein Paar geworden. Die Gedanken, die sie umtrieben, waren dieselben, die sie sich damals an der Donau zugespielt hatten: Ist unser waches Leben wirklich oder existieren wir nur als Vorstellung des andern? Träumen wir uns bloss, kurz vor dem Tode? Im Rahmen der Before …-Trilogie erscheint die in digitaler Animation übermalte Szene mit den realen Schauspielern rückblickend als Phantasmagorie, eben als Traum: Céline und Jesse sollten ja erst 2004 in Before Sunset “wirklich” zusammen in einem Bett liegen …

Ethan Hawke ist Film- und Bühnenschauspieler, Regisseur und, wie in Before Sunset, Buchautor. Die fliessend mehrsprachige Julie Delpy, Star etwa bei Schlöndorff (Homo Faber), Godard, Kieslowski oder Jarmusch, hat neben ihren Filmrollen als Sängerin eine CD veröffentlicht, aus der in Before Sunset zu hören ist. Inzwischen hat sie auch souverän ins Regiefach gewechselt: 2 Days in Paris (2007) und das Sequel 2 Days in New York (2012) sind in ihrer spritzig burlesken Geschliffenheit deutlich vom Unternehmen der Before …-Filme inspiriert.

Und nun also Before Midnight. Jesse / Hawke und Céline / Delpy sind um die vierzig. In den besten Jahren. Sehen immer noch blendend und sexy aus, auch wenn Céline ständig über ihren fetten Pariser Hintern lästert. Sache sind nun Familienferien in Griechenland. Das Herzklopfen an der Donau vor achtzehn Jahren ist ferne Vergangenheit, die zweite, genutzte Chance des Aufbruchs in Paris vor neun Jahren auch. Am Anfang war die erregende Unschuld der Romanze, dann kam die schöne Fortsetzung der Romanze, die Romanze also minus die Unschuld. Jetzt aber geben Céline und Jesse für unsere Sehnsucht nach dem Zauber des Anfangs definitiv nichts mehr her. Keine einfache Ausgangslage für Before Midnight.

Immerhin sind sie kein dumpf unter der griechischen Sonne schweigendes Urlaubspaar geworden. Sie reden noch miteinander wie eh und je, nur etwas grantiger, duellieren sich in Wortschwällen. Das ist witzig, grausam witzig, dann nur noch grausam. Auf dieser brillanten verbalen Achterbahnfahrt durch die moderne familiäre Patchworkexistenz können wir gar nicht aussen vor stehen, sondern sind mit an Bord. Die Dialoge in ihrer Banalität wie ihrer verzweifelten Lebendigkeit sind gespickt mit Referenzen, mit Déja-vus an früher. In ihren bösen, tristen, komischen Twists werden sie hinreissend genau serviert. Delpy ist an Temperament nicht zu bremsen, Hawke hat seine grossen Momente eher im Stillen (etwa in der allerersten Szene mit seinem Sohn am Flughafen). Ein älteres Paar, die griechischen Gastgeber, und ein blutjunges voller lieblicher Gemeinplätze, geben die Folie ab für das, was Céline und Jesse durchmachen. Wird die bevorstehende kinderfreie Nacht im feinen Hotel, die ihnen das ältere Paar zum Ferienschluss offeriert hat, die Hoffnung in der Krise sein? In der letzten Einstellung sehen wir sie stumm am mediterranen Hafen sitzen, die Sonne ist über der Bergkuppe untergegangen, die Kamera weicht sehr ratlos zurück in die Totale.

Ob sie noch zusammenbleiben werden? In weiteren neun Jahren wären Céline und Jesse und ihre Schauspieler Anfang fünfzig. Das kritische Alter für Mann und Frau. Was werden Linklater, Hawke und Delpy uns dann erzählen? Werden sie überhaupt? Sie müssen! Schon jetzt hat die Before…-Trilogie, zumal als Fiktion, ihren unverrückbaren Platz in der Geschichte der stets so aufregenden Langzeit-Unternehmungen im Kino – nach Truffauts halbfiktiven Antoine-Doinel-Filmen mit Jean-Pierre Léaud (1958–1978) sowie legendären Langzeit-Doks wie Michael Apteds Up-Series seit 1964 oder Volker Koepps Wittstock-Filme (1974-1991) und dem Rekordhalter über 46 Jahre: Winfried Junges Die Kinder von Golzow (1961–2007).

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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