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Vous n'avez encore rien vu

Hat der Zuschauer eine andere Wahl? Bleibt ihm überhaupt ein Spielraum, in der heiteren Trauerfeier, die in diesem Film begangen wird, etwas anderes zu sehen als das filmische Vermächtnis seines Regisseurs? Von der Unausweichlichkeit des Todes ist in ihm die Rede, vom Widerspruch der vorläufigen und endgültigen Gefühle.

Text: Gerhard Midding / 31. Juli 2013

Hat der Zuschauer eine andere Wahl? Bleibt ihm überhaupt ein Spielraum, in der heiteren Trauerfeier, die in diesem Film begangen wird, etwas anderes zu sehen als das filmische Vermächtnis seines Regisseurs? Von der Unausweichlichkeit des Todes ist in ihm die Rede, vom Widerspruch der vorläufigen und endgültigen Gefühle. An seinem Anfang steht eine traurige Nachricht und an seinem Ende Abschiede, die am Ende unwiderruflich sind. Rufen wir uns es ruhig noch einmal ins Gedächtnis: Seinen neunzigsten Geburtstag hat Alain Resnais schon vor einiger Zeit gefeiert.

In diesem Alter ist man versucht, sein Lebenswerk abzurunden und vorsichtshalber noch einmal die alten Weggefährten um sich zu scharen. Sein Haus zu bestellen, ist da nicht verwerflich – solange man das Publikum animiert mitzuspielen. Der Regisseur wird es gelassen hinnehmen, dass man Vous n’avez encore rien vu als einen Schlüsselfilm betrachtet, dem es nicht an Koketterie fehlt. Verweist der Titel nicht auf jenen Satz, der wie ein Mantra wiederholt wird in dem Film, durch den er 1959 berühmt wurde: «Tu n’as rien vu à Hiroshima.» Allerdings hat sich Resnais nie dem Verdacht ausgesetzt, ein Filmemacher zu sein, der einem autobiografischen Impuls folgt. Stets verstand er sich als Regisseur, der souverän Besitz ergreift von den Vorlagen fremder Autoren. Auch diesmal hat er sich listig gewappnet: Schaut her, kann er behaupten, ich verfilme ja nur zwei Stücke von Jean Anouilh!

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Das ist einerseits wahr und andererseits eine hübsche Mogelei. Denn wie schon in seinem vorangegangenen Film Les herbes folles hat er auch diesmal etwas getan, das früher undenkbar schien: Er hat mit Laurent Herbiet zusammen das Drehbuch geschrieben, unter einem Pseudonym (Alex Réval), von dem man gern wüsste, welche Bewandtnis es mit ihm hat. Die Rahmenhandlung beruht auf «Cher Antoine, ou L’amour raté», einem Spätwerk des heute mächtig aus der Mode gekommenen Anouilh. Der Prolog des Films ist magistral: Der treue Diener des gefeierten Bühnenautors Antoine d’Anthac ruft nacheinander Schauspieler an, die seit vielen Jahren mit dem Dramatiker befreundet waren. Er teilt ihnen mit, dass d’Anthac gestorben ist, und bittet sie zur Testamentseröffnung in dessen Villa in Südfrankreich. Es sind lauter Namen, die dem Kinogänger wohlvertraut sind: Mathieu Amalric, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Anne Consigny. Anny Duperey, Hippolyte Girardot, Michel Piccoli und Lambert Wilson. Andere, weniger bekannte Darsteller, werden mit der gleichen höflichen Aufmerksamkeit angesprochen: Gérard Lartigau, Michel Robin, Jean-Chrétien Sibertin-Blanc und Michel Vuillermoz. Sie alle spielen gewissermassen sich selbst, besser gesagt: treten unter und auch in ihrem eigenen Namen auf.

Postumes Rendezvous

Das Testament, das der Majordomus ihnen eröffnet, ist ungewöhnlich. Der Dramatiker hat verfügt, dass seine Freunde eine Aufzeichnung seines alten Stücks «Eurydice» begutachten (inszeniert übrigens nicht von Resnais, sondern von dessen geschätztem jüngeren Kollegen Bruno Podalydès), das eine junge, avantgardistische Theatercompagnie neu einstudiert hat. Dabei handelt es sich um Anouilhs Bearbeitung des Orpheus-Mythos, die er in die vierziger Jahre – mithin die Zeit der deutschen Okkupation – verlegte, während bei Resnais bereits in Euro gerechnet wird. Bald genügt es dem illustren Publikum nicht mehr, einfach nur hinzuschauen. Die Darsteller erinnern sich, wie sie einst selbst in dem Stück aufgetreten sind. Sie können nicht an sich halten, lassen sich in ihre alten Rollen zurückfallen, halten Zwiesprache mit ihrer Vergangenheit, miteinander und den Darstellern auf der Leinwand, verhaspeln sich auch mal. Ihre Spielfreude ist angesichts der weihevollen Wehmut des Anlasses einfach zu gross.

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Das postume Rendezvous ist für Resnais Anlass zu einem prunkenden, wenngleich nicht auftrumpfenden Gipfeltreffen französischer Schauspielkunst. Nicht nur eingeschworenen Kennern des Regisseurs wird sofort auffallen, dass der unverzichtbare André Dussollier hierbei fehlt. Er war durch ein unaufschiebbares Theaterengagement entschuldigt, fand allerdings die Zeit, eine Geisterstimme aus dem Off zu sprechen. Dass dieses Aufgebot an Darstellungskunst erlesen ist, steht für Resnais nicht auf dem Prüfstand, sondern ist die Prämisse seiner Unternehmung. Man lässt sich urteilslos entzücken von der Ergriffenheit der Schauspieler. Unter ihnen treten weder Rivalitäten noch Eifersüchteleien zu Tage. Vielmehr beschwört Resnais ein Ideal virtuoser Geselligkeit. Wäre man etwas buchhalterischer, könnte man gleichwohl differenzieren: Amalric ist durchweg grossartig als Sendbote aus dem Jenseits, Azéma übertreibt es im dritten Akt etwas mit der Hysterie; obwohl Wilson tatsächlich schon einmal den Orphée spielte (vor zwanzig Jahren unter der Regie seines Vaters Georges), macht Arditi sich die Rolle gleichermassen souverän zu eigen. Immer wieder wechseln sie, was die Montage von Hervé de Luze magisch kaschiert, ihre Position im Zuschauersaal. Gelegentlich experimentiert Resnais mit den Möglichkeiten des Splitscreen-Verfahrens, lässt unterschiedliche Interpretationen spiegelbildlich oder asymmetrisch in Dialog miteinander treten. Der Raum verändert sich behende, schillert zwischen dem Theatralen und dem Filmischen. Neben der eleganten Wandlungsfähigkeit von Jacques Saulniers Dekors (ja, der arbeitet immer noch für ihn, mehr als ein halbes Jahrhundert nach L’année dernière à Marienbad!) erfreut man sich an der weichzeichnenden Kameraführung Eric Gautiers und der listigen Dramatik von Mark Snows Musik. Die ganze Angelegenheit ist also eminent genussfreudig. Selten wurde in den letzten Jahren auf der Kinoleinwand so viel geraucht wie hier.

Eine Schwäche für Theatercoups

«Du hast noch eine schöne Karriere unter den Lebenden vor dir», sagt der Bote aus dem Jenseits zu Orphée. Das ist zweifellos ein noch köstlicheres Glücksversprechen, wenn man neunzig ist. Der Filmtitel verspricht auch nicht zu viel: Nicht nur D’Anthac hat eine Schwäche für Theatercoups, auch das Drehbuch von Herbiet und Resnais / Réval hält einige Wendungen parat, manche von ihnen überraschend, andere vorhersehbar.

Der Regisseur denkt gar nicht daran, Abschied vom Kino zu feiern. Er zieht nicht einmal Bilanz. Klingt der Titel Vous n’avez encore rien vu dafür nicht auch viel zu zukunftsfroh? Im Gegenteil könnte man den Film als vorzügliche Gelegenheit betrachten, Resnais kennenzulernen. Denn im Grunde setzt er nur fort, was er seit dreissig Jahren macht: das Theater zur vornehmsten Grundlage seines Kinos zu machen. Es bereitet ihm eine ebenso ursprüngliche wie aufgeklärte Freude.

Einen Generationenwechsel mag Resnais nicht vollziehen: Die Avantgardisten verdrängen ihre Vorgänger nicht. Am Ende steht kein Urteil über die Vorzüge oder Schwächen ihrer Aufführung. Ihre Interpretation unterscheidet sich vielleicht zu sehr von dem Stil, den D’Anthacs Darsteller pflegten. Sie haben sie sogleich vergessen, zu präsent ist für sie noch die Vergangenheit. Resnais’ Blick reicht jedoch weiter. Der mysteriöse (und zugegebenermassen etwas holprig inszenierte) Epilog, an dessen Ende die junge Eurydice-Darstellerin unversehens noch einmal auftaucht, schürt die Vermutung, dass sich in den letzten zwei Kinostunden womöglich noch ein anderes, verborgenes Drama abgespielt hat. Das Gewittergrollen von Snows Musik hat es womöglich schon angekündigt. Aber während wir noch über diesen Film grübeln, ist Resnais schon unverdrossen zu einem neuen Abenteuer aufgebrochen. Gerade hat er die Verfilmung eines Stücks von Alan Ayckbourn (seine mittlerweile dritte) abgedreht. Im Original heisst die Vorlage «The Life of Riley», Resnais’ Adaption trägt den Titel Aimer, boire et chanter: Gegen die Lebenslust des altgedienten Avantgardisten ist kein Kraut gewachsen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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