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Imagine waking up 09

Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared

Dieser «Score» ist die kürzestmögliche Inhaltsbeschreibung eines dokumentarischen Films, den das künstlerische Multitalent Bill Drummond zusammen mit seinem Regisseur Stefan Schwietert in Szene gesetzt hat. Die Reise im Landrover durch England und Wales bis an die irische Küste steht unter dem Motto des Scores, dessen Beginn der Filmtitel darstellt.

Text: Erwin Schaar / 04. Nov. 2015

Dieser «Score» ist die kürzestmögliche Inhaltsbeschreibung eines dokumentarischen Films, den das künstlerische Multitalent Bill Drummond zusammen mit seinem Regisseur Stefan Schwietert (Das Alphorn, 2003; Heimatklänge, 2007) in Szene gesetzt hat. Die Reise im Landrover durch England und Wales bis an die irische Küste steht unter dem Motto des Scores, dessen Beginn der Filmtitel darstellt und der imaginiert, dass die Stimmen von Menschen, die Drummond zufällig trifft, zum virtuellen Chor The 17 zusammengestellt werden können. Zusammengesetzt und ausgesteuert werden sie zu einem Stück gemixt, das nur einmal gehört und danach auf Nimmerwiederhören gelöscht wird.

Imagine waking up01

In seinen Scores, die Drummond als Anweisungen versteht, wird ein Nullpunkt anvisiert, von dem aus durch die eindimensionalen Stimmen in der Kombination Musik entstehen soll. Zugegeben, die Voraussetzung, nur zu wissen, dass Musik mal existiert hat und dass sie für uns und unsere Kultur wichtig ist, würde eine gewaltige Verzichtsleistung unseres Gedächtnisses voraussetzen, und dem kann der Filmtitel einfach nicht gerecht werden. Bill Drummond hat seinen Aktionen aber vor allem Performance-Qualitäten abgetrotzt. Scores und Aktionen werden für eine Partitur verbindlich, die dem Zuseher und Zuhörer eine so unaufdringliche und sensible Unterweisung in den Geist von Musik liefert, dass eine spannungsvolle, witzige, Erkenntnis fördernde Expedition durch eine Art von Sinngebung der Existenz erfolgt. Das improvisierende Talent des Aktionsartisten lässt die profunde Aussage des Filmtitels vergessen und eine Art Wohlgefühl entstehen: «Bill sagt: Rede nicht einfach weg, was du fühlst und beobachtest, sondern gehe raus und setzte es um. Mach es!» (Schwietert)

In seinem Score Nr. 1 «Imagine» gibt Drummond vor: «You can only remember that it (the music) had existed and that it had been important to you and your civilisation.» Solche formalistisch klingenden Anweisungen werden in ihren Umsetzungen zu einem spannenden, im besten Sinn pädagogischen Film kompiliert, der durch die Persönlichkeit Drummonds die faszinierende Aussage gewinnt, auch wenn oder weil das improvisierende Talent des Künstlers natürlich durch eine Auswahl des Regisseurs aus vielerlei, sicherlich auch missglückten Aktionen ins filmische Licht gerückt wird.

Imagine waking up

Aber wer ist dieser Bill Drummond, der wie ein Berserker von einem improvisierten Geschehen zum nächsten zu eilen scheint? Der 1953 in Südafrika geborene Schotte ist Künstler, Musiker, Schriftsteller und Plattenproduzent – ein Talent, dem auch etwas Missionarisches eigen ist, vielleicht nicht verwunderlich als Kind einer beruflich religiös orientierten Familie. Drummonds Überzeugungskraft besitzt aber so viel Humor und Einfühlungsgabe, dass Menschen aller Altersstufen seinem Ansinnen kaum ausweichen können. Zusammen mit Jimmy Cauty hat er einst die Band KLF gegründet, die durch ihre aus Musikstücken anderer Künstler gesampelten Ambient- und House-Musik international Erfolg hatte und 1992 auch einen BRIT Award gewann. Drummond brach dann alle Verbindungen zur Popmusikwelt ab und gewann noch einmal die weit grössere öffentliche Aufmerksamkeit, als er eine Million britische Pfund in Noten verbrannte. Das scheint ihm eine schillernde Aura vermittelt zu haben.

Drummond kann aus Geräuschen seines Autos und den Tönen, die er Strassenarbeitern, Kneipenbesuchern oder Schulklassen entlockt, ein Gefühl für das Hören vermitteln, damit Andacht oder gute Laune, ausgehend von der Annahme, dass Musik immer wieder aus dem Nichts entstehen kann. Wobei natürlich der Titel des Films eine gelinde Übertreibung ist und eher Aufmerksamkeit generiert. Aber Schwietert sieht das gerade als die Herausforderung für den Zuschauer und meint zum Anliegen seiner Zusammenarbeit mit dieser ungewöhnlich selbstbewussten Figur im abgeschabten Ledermantel: «Es gab unglaublich viele Übereinstimmungen zu meinem Projekt, denn bei The 17 stehen die gleichen Fragen im Hintergrund: Welche Funktion hat Musik heute, und wie geht man damit um?»

Das Ende des Films könnte dann frustrierend sein, aber es löst zum einzigen Mal das Versprechen der Welt ohne Töne ein.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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