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Inside Out

Inside Out lässt uns in den Kopf von Riley und auch in die Köpfe von ihren Eltern sehen. Da schalten und walten die Gefühlen: Joy, Disgust, Sadness, Anger und Fear. Welche Funktion Sadness haben soll, kann Joy nur schwer begreifen.

Text: Oswald Iten / 23. Sep. 2015

«Do you ever look at someone and wonder what is going on inside their head? Well, I know.» Mit dieser selbst beantworteten Frage beansprucht Joy aus dem Off die Deutungshoheit über die nun folgende Geschichte klar für sich. Geboren wurde die strahlende Erzählerin als erste Gefühlsregung der kleinen Riley aus einem Lichtschein. Ein vage angedeuteter Raum und die in Michael Giacchinos schwerelose Filmmusik eingebetteten Glasgeräusche von Ren Klyces sphärischem Sounddesign genügen Pete Docter, um das Grundkonzept seines Films, der grösstenteils in Rileys Kopf spielt, innerhalb einer einzigen Minute mit jener Leichtigkeit zu erklären, die schon den ersten Akt von Up (2009) zu einem Ereignis machte.

Doch Sekunden nachdem Joy Rileys erste Erinnerung als gelb strahlende Murmel in Händen hält, stört der Klang einer Tuba die traute Zweisamkeit empfindlich. Am Schaltpult des Bewusstseins, das zu diesem Zeitpunkt über einen Druckknopf nur jeweils eine Emotion auslösen kann, bringt die blaue Sadness Riley zum Weinen. Joy akzeptiert zwar, dass der violette Feigling Fear das Mädchen vor Gefahren schützen muss. Ebenso lässt sie Disgust, die farblich dem verschmähten Broccoli gleicht, ungehindert eine grüne Erinnerungskugel anlegen und den kubusförmigen Anger ob des gestrichenen Desserts explodieren. Die Daseinsberechtigung von Sadness kann sie sich jedoch beim besten Willen nicht erklären.

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Dafür bringt die zuweilen redundant wirkende Voice-over ihre eigene manische Kontrollsucht deutlich zum Ausdruck. Folglich sind zu diesem Zeitpunkt die meisten Erinnerungen glücklich, wobei die Kernerinnerungen in einem speziellen Drehgestell im Fussboden sogar noch ein bisschen heller leuchten als die übrigen gelben Kugeln. Diese prägenden Erlebnisse können per Knopfdruck ins Bewusstsein gerufen werden, um dort die entsprechende Insel von Rileys Persönlichkeit zu aktivieren.

Dies lässt sich freilich auch als Metapher für die minutiös kontrollierte Erzähltechnik der Pixar-Filmemacher lesen. Schliesslich basiert die emotionale Zugänglichkeit ihrer Originalstoffe seit Toy Story (1995) nicht auf den werbewirksam ungewohnten Erzählperspektiven, sondern auf der Durchleuchtung menschlicher Grundkonflikte, die jeder Zuschauer aus eigener Erfahrung kennt.

Da bei Pixar noch immer dasselbe Kreativteam den Ton angibt, das lieber Testvorführungen mit Nachbarskindern macht als auf Marketingexperten zu hören, lässt sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre eine ähnliche Entwicklung feststellen wie einst bei Walt Disneys «Nine Old Men»: Während die frühen Werke von der Nähe zur eigenen Kindheit geprägt waren, nähren sich neuere Filme wie Brave (2012) aus elterlicher Erfahrung. Inside Out lässt uns deshalb punktuell auch in die Köpfe von Rileys Eltern sehen, die ihr das Leben mit einem berufsbedingten Umzug von Minnesota nach San Francisco nicht eben leicht machen, aber trotzdem nie als negative Figuren erscheinen. In die von Docters Tochter inspirierte Geschichte liessen sowohl der Koregisseur Ronnie Del Carmen als auch der nostalgisch veranlagte Produzent Jonas Rivera persönliche Erfahrungen als Väter von Töchtern einfliessen. Allerdings entspinnt sich die Handlung von Inside Out im Gegensatz zu Brave trotz einer Mehrzahl weiblicher Figuren erstaunlich geschlechtsneutral.

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Beim Betreten des leeren Häuschens in San Francisco zeugt die gleichmässige Verteilung der regenbogenfarbigen Streifen auf Rileys Pullover noch von einer ausgeglichenen Persönlichkeit. Doch in ihrem Innern werden die gelben Kugeln zunehmend von roten, grünen und violetten verdrängt. Nachdem eine ursprünglich glückliche Erinnerung durch eine intuitive Berührung durch Sadness plötzlich blau geworden ist, versucht Joy, Sadness auszuschliessen. Zur Eskalation kommt es, als Riley gar eine blaue Kernerinnerung produziert, weil sie vor der neuen Klasse weinen musste. Das Mädchen wirkt hier schauspielerisch derart überzeugend, dass man sich wünscht, Inside Out würde mehr Gewicht auf die äussere Welt legen. Neben dem technischen Fortschritt ist dies wie schon bei der kleinen Boo in Docters Monsters Inc. (2001) vor allem dem hierzulande oft unterschätzten Voice-Acting zu verdanken.

Als Folge von Joys Versuch, die blaue Kugel zu zerstören, wird sie zusammen mit Sadness und den Kernerinnerungen ins labyrinthartige Langzeitgedächtnis hinausgeschleudert. Dadurch verliert Riley ihre Kernkompetenzen. An dieser Schlüsselszene zeigt sich, wie weit Docter vom Erzählgestus seines Vorbildes Hayao Miyazaki entfernt ist: Während in Kiki's Delivery Service (1989) der temporäre Zerfall von Kikis Persönlichkeit intuitiv als Folge aufkeimender Selbstreflexion verständlich wird, kommentieren die drei verbliebenen Emotionen den entsprechenden Moment in <Inside Out mit unaufhörlich überbordendem Dialogwitz, der eigenen Interpretationen keinen Raum lässt.

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Dafür manifestiert sich in ihrem karikierten Verhalten eine erfolgreiche Annäherung ans akzentuierte Timing von Chuck Jones’ Warner Brothers Cartoons. Die der Computeranimation zugrundeliegenden digitalen Puppen sind mittlerweile derart flexibel konstruiert, dass sie im Falle der personifizierten Emotionen fast so komplexe Verzerrungen zulassen wie handgezeichnete Figuren. Gleichzeitig gelingt es den Pixar-Animatoren immer besser, den Schauspielstil dynamisch der jeweiligen Stimmung anzupassen. Als sich Joy für die Rückreise in die Schaltzentrale ausgerechnet mit der trägen Sadness zusammenraufen muss, die sie eigentlich loswerden wollte, durchlebt sie selbst alle fünf Emotionen. Getreu den Konventionen dieses von Pixar vielfach variierten Buddy-Movie-Plots kämpfen die beiden zusätzlich gegen die Zeit, weil ihre Absenz die Welt in Rileys Kopf zerbrechen lässt. Der zunächst beliebig wirkende Gang durch vergnügungsparkartige Phantasiewelten entpuppt sich bald als ernsthafte Auseinandersetzung mit Joys Glückswahn, der keine negativen Emotionen zulässt.

Somit entfernt sich die Handlung zwar von Rileys äusserer Geschichte. Dafür widmet sich Inside Out anhand genialer Einfälle der anfänglichen Frage, was im Kopf eines Menschen vorgehe. So erweist sich die Abstraktion als gefährliche Abkürzung, in der man sich für immer verlieren kann. Selbst die Popreferenzen eröffnen hier produktive Assoziationsräume: Tief im Unterbewusstsein schläft Rileys dunkelste Angst in Form eines riesigen Clowns, der über die Stephen-King-Verfilmung It (1990) an Freuds Es erinnert und in derselben Pose daliegt wie das von Miyazaki als Projektionsfläche angelegte Fabelwesen Totoro, das nur Kinder sehen können.

Fast unbemerkt lernt die passive Sadness stellvertretend für Riley, ihre unwillkürlichen Gefühlsäusserungen zu verbalisieren und zu kontrollieren. In der Zentrale zeigt sich zudem, dass die wahre Bedrohung in der Gleichgültigkeit liegt. Joy hingegen muss erst verzweifelt in den Abgrund stürzen, um die vermeintliche Schwäche ihrer Kontrahentin als Stärke zu erkennen. Erfreulicherweise geschieht dies zum ersten Mal in einem Pixarfilm ohne äusseren Bösewicht. Stattdessen inszeniert Docter Joys entwaffnend simple Einsicht von der kathartischen Funktion der Traurigkeit als kleine Epiphanie des Alltags. Gleichzeitig erklärt er damit das zum Mantra erhobene Disney-Zitat «for every laugh there should be a tear» und führt uns vor Augen, wie bereitwillig wir ihn auf unseren Knöpfen im Kopf drücken lassen, wenn die dramaturgisch unterfütterte Sentimentalität an echte Gefühle rührt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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