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La fille inconnue

Genaue Beobachtung bewahrt vor vorschnellen Diagnosen. Die Kunst der Brüder Dardenne liegt darin, die soziale Identität mit der Intimität des Körpers zu verknüpfen.

Text: Philipp Stadelmaier / 02. Nov. 2016

Als es abends lange nach Feierabend an ihrer Tür klingelt, macht die junge Ärztin Dr. Jenny Davin, die gerade die Praxis in Lüttich zur Vertretung übernommen hat, nicht auf. Später stellt sie fest, dass eine Prostituierte afrikanischer Herkunft vor ihrer Tür stand. Und dass diese, offenbar auf der Flucht vor einem Verfolger, daraufhin ermordet wurde. Hätte Davin aufgemacht, wäre das Mädchen noch am Leben. Von Gewissensbissen geplagt, beschliesst sie, die Praxis zu übernehmen und auf eine Karriere in einem renommierten Gesundheitszentrum zu verzichten. Sie möchte fortan für andere da sein, für ihre meist weniger wohlhabenden Patienten, bei denen sie auch mal bei den Gasrechnungen nach dem Rechten sieht. Und vor allem möchte sie den Namen des unbekannten Mädchens herausfinden.

Der neue Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne zeigt, dass ihr Kino alles andere als nur das einer sozialen Chronik ist – es ist ebenso vom Genre geprägt. Denn ihr neuer Film ist auch ein Krimi. Der Suspense besteht darin, den richtigen Namen des Opfers herauszukriegen. Was einerseits eine Lösung des Verbrechens bedeuten und andererseits dem Mädchen eine Identität geben würde. Auf diese Weise bleibt es nicht einfach ein abstrakter sozialer Fall, determiniert durch seine Herkunft, Hautfarbe und Lebenssitua­tion. Der Name der jungen Frau muss, durch die Investigation der Ärztin, erst noch gefunden werden, und dieser Name ist ein Eigenname, ein singulärer Name.

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Schon im letzten Film der Dardennes, [art:deux-jours-une-nuit:Deux jours une nuit] (2014), in der mit Sandra ebenfalls eine Heldin im Mittelpunkt steht, kommt es zu dieser Singularisierung sozialer Typen durch Suspense. Sandra hat ein Wochenende lang Zeit, um ihre Arbeitskollegen dazu zu bringen, bei einer Betriebsabstimmung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes zu stimmen. Die Spannung besteht in der Frage, ob ihr das gelingen würde, während die Begegnungen mit den einzelnen Kollegen und Kolleginnen ebenso viele individuelle Porträts ergeben. Da Sandra etwas von ihnen will, wirken sie nicht einfach wie fertige Repräsentanten des «kleinen Mannes». Ihr Porträt entsteht, weil durch Sandra ihr sozialer Platz erforscht und eventuell verändert wird: weil er auf den Suspense hin geöffnet wird, ob es Sandra gelingen wird, eine wehrhafte Gemeinschaft herzustellen, die dem Arbeitgeber Paroli bieten kann.

Sandra und Jenny Davin sind jeweils sehr einsame Heldinnen. Die junge Ärztin in La fille inconnue bleibt ohne Partner, ohne Bekannte, ihre einzigen privaten Momente bestehen im Krafttanken bei einer Zigarette, ein paar Tomaten in der Pfanne oder einer belgischen Waffel. Und gleichzeitig ist dieser Kampf ein Kampf für andere und an ihrer Stelle. Als sie einmal zu erschöpft ist, sagt Sandra zu einem Kollegen: «Nimm meine Stelle ein» (was heisst: «kämpf an meiner Stelle weiter»), und Jenny Davin kämpft auch für eine tote Prostituierte, die für viele steht. Nun hat dieser doppelte Kampf jeweils eine medizinische Dimension. In Deux jours, une nuit leidet Sandra an einer Depression, sodass ihr Kampf mit der eigenen psychischen Krise ebenso ein Kampf mit einer wirtschaftlichen Krise ist. Im neuen Film ist es nun eine Ärztin, die, selbst «krank» vor schlechtem Gewissen, ihre Untersuchung führt, indem sie vor allem ihre Patienten konsultiert.

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In dieser medizinischen Dimension zeigt sich die Aufgabe, die in den Filmen der Dardennes den Figuren gestellt wird – auch im Sinn einer Last, die ihnen auferlegt werden muss, ohne dass dabei – eben im Sinn des Suspense – klar ist, ob oder wie sie die Aufgabe bewältigen können. So wie in Le fils (2002), wo ein Schreiner den gerade entlassenen Mörder seines Sohns als Lehrling in seine Werkstatt aufnimmt. Auch hier gab es schon eine körperliche Dimension: Die Kamera klebte am Nacken seiner Hauptfigur und verschmolz beinahe mit ihr. In den Filmen der Dardennes zeigt sich die «Aufgabe» zuvorderst am Körper, und zwar dort, wo dieser von etwas Nichtkörperlichem belastet wird, wo sich Schwäche zeigt oder zeigen könnte, wie bei Sandras Depression oder bei den Fitnessübungen, die der Schreiner in Le fils immer wieder macht, um sich zu beruhigen. So folgt in La fille inconnue Dr. Jenny Davin der Spur des Verbrechens, indem sie in einer Krankheit nicht unbedingt eine organische Störung, sondern ein psychosomatisches Symptom für ein schlechtes Gewissen entdeckt. Zufällig merkt sie beim Pulsfühlen an der Schläfe eines Jungen, dass sein Herzschlag hochgeht, als sie den Mord erwähnt. Später kriegt er Bauchschmerzen, weil er sich wegen etwas, was er weiss, schuldig fühlt; ein anderer erleidet einen Bandscheibenvorfall. Das sture Schweigen der Männer, die alle indirekt den Tod der Prostituierten mitverantworten, ist in der Tat pathologisch. «Wenn sie nicht tot wäre, wäre sie nicht in unseren Köpfen», sagt Davin einmal. Sie sitzt in den Köpfen – also im Körper.

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Diese Mischung aus Arzt und Kriminalist erinnert stark an Georges Simenons Kommissar Maigret, der selbst ein halber Arzt war. Wie er wird Jenny Davin ausserdem zur Priesterin, da sie dem seelischen Gebrechen ihrer Patienten auf die Schliche kommt, um ihnen dann die Beichte abzunehmen und ihre Körper von ihrer Last zu befreien. So wird in der Figur der ­Ärztin viel von der enormen Kunst der Dardennes selbst deutlich. Die soziale Identität ist bei ihnen zunächst suspendiert, ist Ergebnis einer Ermittlung oder einer medizinischen Untersuchung; sie ist absolut singulär, denn sie erscheint in der Intimität eines Körpers, der von der Aussenwelt bearbeitet wird. Womit die (medizinische) «Aufgabe» dieses Kinos selbst – und der Ärztin – darin liegt, dem Körper die Aufgegebenheit seiner Last, die Zeichen seiner Schwächung abzulesen, um zu sehen, wie dasjenige, was sich von aussen in ihn einträgt, mit ihm artikuliert ist, wie es in ihn gelangt und wie es ihm wieder abgenommen werden kann. Nur so kann es (sich) heilen.

Das Kino der Dardennes muss sich nämlich, wie Dr. Davin, sowohl um sich selbst sorgen wie um seine Figuren. Um die Artikulation der Körper mit dem Sozia­len zu untersuchen, muss das Kino der Dardennes chronisch übersensibel sein, es muss also die kleinsten Gesten genaustens beobachten, was vor der vorschnellen Diagnose bewahrt (der Einteilung in «soziale Typen»), während es dabei riskiert, selbst krank zu werden. Einmal sagt Dr. Davin zu ihrem Praktikanten, man müsse stärker als seine Emotionen sein, um eine gute Diagnostik zu stellen – während sie sich bald doch auch von ihren Gefühlen leiten lässt. Die Mise en Scène der Dardennes, die immerhin zu zweit sind, ist nicht anders: ein Austarieren der Mitte im Überempfindlichen, in dem das kleinste Detail registriert und dennoch der kühle Rahmen für die Aufnahme gewahrt bleiben muss; in dem die Empathie ebenso möglich bleiben muss wie die präzise Diagnose.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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