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Leave No Trace

In der Wildnis möchten der Kriegsveteran und seine Tochter wieder gesund werden. Aber den eigenen Erinnerungen entkommt man nicht.

Text: Pamela Jahn / 08. Okt. 2018

Es ist das erste Gesetz der Zivilisation: Wo der Mensch Platz für sich beansprucht, muss die Natur weichen. Was aber geschieht, wenn der Mensch sich dafür entscheidet, der Gesellschaft, die ihn gebrochen hat, den Rücken zu kehren? Wenn er gewillt ist, sich stattdessen lieber den Regeln der Wildnis zu unterwerfen? Dabei will der Kriegsveteran und Witwer Will eigentlich nur seine Ruhe haben, um die schrecklichen Erlebnisse des Kriegs zu vergessen. Gemeinsam mit seiner dreizehnjährigen Tochter Tom hat er sich deshalb ein Leben in den Wäldern eines öffentlichen State Parks in Portland, Oregon, eingerichtet – fernab von der Norm, dem Lärm und den Verpflichtungen des modernen Lebens. Ihr Glück ist die Zweisamkeit und alles, was sich ihnen zum Überleben unter freiem Himmel bietet: Regenwasser zum Trinken, Pilze zum Mittagessen sowie Laub und Gras zum Feuermachen. Die Zeit vertreiben sich Vater und Tochter mit dem Auskundschaften ihrer Umgebung und regelmässigen Versteckmanövern, die sie davor bewahren sollen, von den Behörden entdeckt zu werden. Nur gelegentlich unternehmen sie einen Ausflug in die Stadt, um Besorgungen zu machen, die sie mit dem Erlös von Wills Medikamentendeals bezahlen. Denn anstatt sein Nachkriegstrauma mit Pharmazeutika zu behandeln, setzt der gänzlich in sich gekehrte Mann allein auf frische Luft und die Magie der Natur, um sich von den nächtlichen Albträumen zu befreien.

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Doch man ahnt schnell, dass der vermeintliche Frieden in Leave No Trace nicht von langer Dauer sein wird. Kaum wird Tom eines Tages von einem Jogger entdeckt, ist ihnen die Polizei auf der Spur und nimmt sie in Gewahrsam. Ein Resozialisierungsprogramm inklusive Haus in Parknähe und eine Anstellung als Forstarbeiter für Will soll ihnen helfen, wieder einen Schritt Richtung Gesellschaft zu machen. Doch während Tom sich in ihrem neuen Umfeld mit Schule und Freunden so gut es geht zu arrangieren versucht, fällt es ihrem Vater einfach zu schwer, sich auf Dauer einer Welt zu fügen, die längst nicht mehr die seine ist.

Basierend auf dem Roman «My Abandonment» von Peter Rock (der wiederum auf einer wahren Begebenheit beruht), zeichnet Debra Granik das Porträt einer Vater-Tochter-Beziehung, die nicht auf Heimat, Besitzansprüchen oder den gängigen Erziehungsmustern aufgebaut ist, sondern sich selbst genügt, solange Tom vom Leben nicht mehr verlangt, als bei ihrem Vater zu sein. Erst mit dem Aufbrechen der Möglichkeiten setzen auch bei Tom Zweifel ein, ob Wills Weg tatsächlich der richtige ist. Den Konflikt, der sich zwangsläufig daraus ergibt, löst Granik auf ihre eigene, spezielle Weise: Mit wenigen Worten, langsam und behutsam nähert sie sich dem Kern ihres klugen, sinnlichen Films, dass man nur staunt, wie unvermittelt sich dann unsere Betroffenheit einstellt.

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Ähnlich wie bei Winter’s Bone, mit dem Granik vor gut acht Jahren einer damals aufstrebenden Jennifer Lawrence zum grossen Durchbruch verhalf, hat sie mit Thomasin McKenzie erneut eine junge Schauspielerin für sich entdeckt, die einerseits die Balance zwischen Tapferkeit und Verletzbarkeit mühelos beherrscht, die aber auch nicht davor zurückschreckt, einen Grossteil der Handlung allein zu stemmen. Ihr Spiel ist bemerkenswert erfrischend und bestürzend zugleich, ohne jemals Toms Suche nach der eigenen Identität aus den Augen zu verlieren, oder noch schlimmer: dem Klischee zu opfern. Denn noch etwas haben beide Filme gemein: Die Authentizität der Figuren war, ist und bleibt Graniks oberstes Gebot. Dementsprechend fügt sich auch Ben Foster als Will in seiner permanent angespannten Verschlossenheit nahtlos in die von Granik stets mit viel Verstand und Gefühl gefilmte Umgebung ein. Zum Ausdruck bringt Granik ihre Achtung und Liebe zur Natur nicht nur in präzi­-sen Bildern, sondern auch einer auf alles lauschenden Tonspur.

Granik ist ein schmaler, starker Film gelungen, dessen leise Wucht erst voll einsetzt, wenn man den sicheren Raum des Kinos bereits verlassen hat.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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