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Shoplifters

Was ist Familie? Die Frage beschäftigt Hirokazu Kore-eda in all seinen Filmen. Hier gibt er eine ebenso verblüffende wie radikale Antwort.

Text: Philipp Stadelmaier / 10. Dez. 2018

Das letzte Wort im neuen Film von Hirokazu Kore-eda ist «Papa». Es wird so leise ausgesprochen, dass man es kaum hört, von einem Jungen, der aus der Heckscheibe eines fahrenden Busses zurückschaut. Zurück zu dem Mann, der gar nicht sein leiblicher Vater ist. Aber gerade indem er sich von ihm entfernt, kann er ihn als Vater anerkennen. Die Bindung entsteht dort, wo Verbundenheit nicht von allem Anfang gegeben ist. Daher ist dieses letzte Wort so bedeutsam. Und wenn es auch kaum hörbar ausgesprochen ist, dann ist es trotzdem definitiv und besiegelnd. Der wahre Vater ist derjenige, den man sich selbst gewählt hat.

Dieser (falsche) Vater heisst Osamu. Er wohnt zu Beginn des Films zusammen mit seiner Frau Nobuyo, mit Grossmutter und deren Enkelin in einer sehr bescheidenden, ärmlichen Unterkunft in Tokio. Osamu ist Bauarbeiter, die Frau arbeitet in einer Wäscherei, die Enkelin in einer Peepshow und die Grossmutter lebt von ihrer Rente. Und dann ist da noch der Junge Shota, den sie irgendwann bei sich aufgenommen haben.

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Die Familie, das ist das grosse Thema von Kore-eda. In Nodody Knows (Dare mo shiranai) von 2004 liess eine Mutter ihre vier Kinder in einer Wohnung zurück, wo diese sich ein neues Leben organisieren mussten; Still Walking (Aruite mo aruite mo) von 2008 versammelte eine Familie im Gedenken um einen vor langer Zeit verstorbenen Sohn; und in Like Father Like Son (Soshite chichi ni naru) stellten zwei Familien fest, dass bei der Geburt ihre Kinder vertauscht wurden. Die drei Schwestern in Our Little Sister (Unimachi Diary, 2015, ausgezeichnet mit dem Jury-Preis in Cannes) entdeckten bei der Beerdigung ihres Vaters eine vierte Schwester und nahmen diese bei sich auf. Die Familie ist bei Kore-eda die Grundlage, ein Ganzes, das durch abwesende oder neue Mitglieder subtil verändert wird, ohne dabei aufzuhören, ein Ganzes zu sein – so wie in Our Little Sister die Schwester immer schon Teil der Familie war, auch wenn man sie noch nicht kannte. In Shoplifters, für den der japanische Regisseur in diesem Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, ist dieses familiäre Ganze noch stärker erweiterbar als je zuvor.

Osamu hat seinem (falschen) Sohn Shota eine einzige Sache mitgegeben: Shoplifting, Ladendiebstahl. Das, so erklärt Osamu später, war das Einzige, worin er selbst gut war und was er ihm beibringen konnte. Schon die erste Szene des Films zeigt Vater und Sohn, wie sie in einem Supermarkt Einkäufe erledigen und dabei einiges mitgehen, unauffällig in Taschen und Rucksäcken verschwinden lassen. Während ihres Beutezugs verständigen sie sich mittels eines ausgefeilten Zeichensystems, das nur sie verstehen. Ihre Sprache ist in diesem Moment, ebenso wie ihre familiäre Bindung, eine erfundene.

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Aber mit dem Klauen hat der Vater dem Jungen noch etwas anderes vermittelt, nämlich die Bedeutung (man müsste eher sagen: das Erfinden) von Familie, jenseits jeglicher Blutsbande. Später erklärt der Sohn mit den Worten des Vaters die Legitimität des Stehlens: Was in einem Laden ist, gehört noch niemandem. Dies lässt sich problemlos auf das Prinzip ihrer «Familie» ausdehnen: Wer auf der Strasse lebt, gehört ebenso noch niemandem. Der Film beginnt auch damit, dass die Familie ein weiteres Mitglied von der Strasse adoptiert: das kleine Mädchen Yuri. Die hat zwar eine Herkunftsfamilie, aber als Osamu und seine Frau sie zurückbringen wollen, hören sie von draussen nur ein wüst streitendes Paar – später stellt sich heraus, dass Yuri von ihren Eltern misshandelt wurde. Also beschliessen Osamu und Nobuyo, sie bei sich aufzunehmen.

Yuris Adoption erinnert ein bisschen an die Art, mit der die von Jeanne Moreau gespielte Kammer­zofe in Luis Buñuels Journal d’une femme de chambre (1964) ein herumstreunendes Mädchen bei sich aufnimmt, ihr zu essen und ein Bett gibt. Ohne einem hehren moralischen oder humanistischen Ideal zu folgen (solche Beweggründe können sich nur die Reichen leisten), sondern aus einer spontanen, traumartigen Eingebung, einem unbegründeten Mitgefühl heraus, das absurd und komisch wirkt, aber in seiner Unerklärlichkeit auch viel unbedingter war. Ebenso wirkt auch Kore-edas Familie komisch, und sein Film ist auch eine Komödie. Nicht nur ist diese Familie dazu da, ihre Mitglieder mit einer unbedingten Liebe zu versorgen, die andere ihnen nicht geben konnten (gerade die «Mutter» schliesst Yuri sehr schnell in ihr Herz), sondern auch die Familie selbst kann nur existieren, indem sie weiter adoptiert.

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Doch während die Adoption die Grundlage dieser Familie darstellt, ist dies zugleich auch ihre grösste Bedrohung. Der Junge, der die Ladendiebstähle begeht, spielt absichtlich mit dem Risiko, sich erwischen zu lassen, und auch das Mädchen, das von ihren Eltern bald als vermisst gemeldet und von der Polizei gesucht wird, ist ein Gefahrenherd. Die Adoptivkinder, die man auf jeden Fall aufnehmen und lieben muss und die die einzige Möglichkeit des Fortbestandes dieses nicht biologischen Verbundes darstellen, bedrohen gleichzeitig seine Existenz.

«Bindung ist stärker, wenn man selbst wählen kann», sagt die Mutter Nobuyo einmal. Die frei gewählte Familie ist die bessere Familie als die leibliche, zu der man verdammt ist. So weit, so gut. Aber dann bleibt immer noch zu wissen, wer wen wählt. Yuri wird nicht entführt, sondern sie wird gefragt, ob sie bleiben will. Ist es also die Familie, die sich für Yuri entscheidet, oder umgekehrt? Wählt man jemanden, oder wird man gewählt? Es ist diese Frage, die an die Substanz geht, auch wenn sie zunächst noch so harmlos klingt – so wie alles in diesem Film lange Zeit harmlos scheint. Wenn es die Familie ist, die entscheidet, auswählt und adoptiert, dann erhält sie sich dadurch. Aber wenn es die fremde Person ist, die die Familie wählt, dann wird die Familie dadurch auch einem Zugriff von aussen preisgegeben. Dann wird die Familie, die unentwegt das Aussen in sich integriert hatte, schliesslich ihrerseits von diesem Aussen adoptiert, indem sie langsam die Kontrolle über sich verliert.

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Von diesem Aussen aus wirft Kore-eda dann seinen schönsten, aber auch seinen bedrohlichsten Blick auf diese Familie. Eines Nachts blickt die Kamera aus dem Himmel auf die Gruppe herunter, die in einem schmalen, beleuchteten Spalt zwischen Hausdach und Garten versammelt ist. Das Aussen, das ist hier die Kamera, die die Familie betrachtet. In den Szenen davor war die Kamera integriert, adoptiert gewesen innerhalb der Familie, die sie zu ebener Erde und buchstäblich auf Augenhöhe in unaufdringlichen Einstellungen zeigte. Nun aber ist es umgekehrt die schwebende Kamera, die die Familie adoptiert, sie ins Aussen zieht. Ein schönes Bild, sicher. Aber auch die Ankündigung des Endes, ein letztes gemeinsames Bild der Familie vor ihrer Zerstreuung.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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