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Estiu 1993  / Summer 1993

Die Erinnerung an einen Sommer und die Verletzungen der Kindheit – schmerzhaft traurig und doch leuchtend hoffnungsvoll.

Text: Dominic Schmid / 23. Juli 2018

Es gibt kaum etwas Schwierigeres, als die Erfahrungswelt eines Kindes darzustellen. Alles, was den Menschen unergründlich macht – seine Vergangenheit, seine Geheimnisse, seine Traumata –, ist da noch unverfügbarer als bei Erwachsenen. Die Katalanin Carla Simón versucht es dennoch in Summer 1993, einer autobiografisch inspirierten Erzählung, deren Haupt­figur, die sechsjährige Frida, mit der Regisseurin «identisch» ist. Dabei möchte man meinen, dass die eigene Erinnerung einen unmittelbareren Zugang zur kindlichen Wahrnehmung öffnen würde. Doch zugleich kommt einem selten etwas fremdartiger vor, als die eigene Person im frühen Kindesalter – vor allem wenn sich diese frühere Version von einem selbst gerade mitten in einem unartikulierten posttraumatischen Zustand befindet. Das äusserst schwierige Unterfangen also, zu dem sich Summer 1993 anschickt, ist eine empathische Annäherung an jenes frühere Selbst, mit allen Tücken und Vorzügen der fragmentarischen Erinnerung, die gleichzeitig alles und nichts mit jener Person zu tun hat, die man später geworden ist.

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Die ersten Einstellungen, die Erinnerungen darstellen, sind unscharf und überwältigend: im Himmel ein Feuerwerk, im Vordergrund Frida, deren wilden Lockenkopf wir nur von hinten sehen. Ein Bub fragt sie, weshalb sie nicht weine. Die Frage wirkt unverständlich, doch sobald wir den Kontext erfahren, beginnen wir sie uns selbst zu stellen. Warum weint Frida nicht, die allen Grund dazu hätte? Die Mutter ist, wie vermutlich zuvor schon der Vater, an Aids gestorben. In der Wohnung ihrer Eltern in Barcelona sind nun Erwachsene – erneut im unscharfen Hintergrund – gerade dabei, die Wohnung zu räumen und über Fridas weiteres Leben zu entscheiden. Sie kommt in die Obhut ihrer Tante und ihres Onkels, die mit ihrer dreijährigen Tochter Anna im ländlichen Katalonien leben.

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Der Film erzählt von Fridas erstem Sommer in der neuen, fremden Umgebung. Beinahe in jeder Einstellung sehen wir sie, nicht in der Mitte, sondern am Bildrand, die Umgebung beobachtend, gegenseitige Wirkungsverhältnisse auslotend. Einmal verletzt sie sich auf dem Spielplatz am Knie, ein wenig Blut fliesst. Als sich ein anderes Mädchen besorgt zu ihr niederbückt, kommt dessen Mutter angerannt und weist sie an, sich von Frida fernzuhalten. Nichts wird ausgesprochen, doch im Hintergrund, am Rand der Wahrnehmung (Fridas und auch des Films) schwingen die Ängste und die sozialen Stigmata mit. Auch die konservativen Grosseltern, die manchmal zu Besuch kommen, scheinen Frida Vorwürfe zu machen für den Lebenswandel ihrer Eltern, der ihrer Meinung nach zu deren Erkrankung führte. Fleissig beten solle sie, was Frida auch heimlich tut. Weinen, das will oder kann sie noch immer nicht.

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Die beiden jungen Darstellerinnen Laia ­Artigas und Paula Robles spielen ihre Rollen so gut, dass man vergisst, dass sie spielen. Zu einem Teil liegt dies bestimmt auch daran, dass sich die Figuren ohnehin ständig in einer Art Spiel befinden, sei es während des Planschens in der Badewanne oder im Teich und in subtileren Momenten, in denen Frida ihre tragische Situation in kleinen Machtspielen auslebt. Während sie es mag, ihre jüngere Cousine Anna herumzukommandieren, wie im (sehr amüsanten) Rollenspiel als verwöhnte Diva, nimmt ihr Verhalten manchmal auch bedrohliche Züge an, etwa wenn sie die Dreijährige einmal alleine im Wald zurücklässt. Gegenüber ihrer Tante Marga kommt es hingegen immer wieder zu irritierenden Trotzanfällen, die als indirekte Reaktion auf den Verlust ihrer «richtigen» Eltern erscheinen.

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All dies wird im Film fragmentarisch und scheinbar unzusammenhängend wiedergegeben. So entspricht die lose Abfolge der Ereignisse einerseits einer kindlichen Wahrnehmung als Aneinanderreihung von intensiven Momenten und gleichzeitig einer 25 Jahre zurückliegenden Erinnerung, die kaum je zwischen wesentlich und unwesentlich unterscheidet. Das Ergebnis ist ein wunderbarer, trauriger und doch hoffnungsvoller Film, dessen emotionale Landschaft irgendwo zwischen [art:1248], El espíritu de la colmena und den frühen Kindheitsdramen von Hou Hsiao-hsien liegt. Er stellt gleichzeitig einen sehr spezifischen, trotz aller Unschärfe leuchtenden Erinnerungsakt seiner Schöpferin dar.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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