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The Rider

Für Brady ist ein Leben ohne Rodeo nicht vorstellbar. Doch nicht nur er muss sich von einer Lebensweise verabschieden. Das Leben der Cowboys in South Dakota ist nicht mehr, was es mal war.

Text: Lukas Stern / 02. Juli 2018

Das Bild, das uns in The Rider hineinführt, ist in besonderem Sinne emblematisch für den Film als Ganzes – emblematischer noch als die Landschaftstableaus Norddakotas, diese gewohnt weiten Aufnahmen einer nach allen Richtungen hin endlosen Prärie, in der die tiefstehende Sonne durch die Latten einer Pferdekoppel bricht, in der sich im Hintergrund Sandsteingebirge aus dem Boden falten, in der nur gelegentlich ein trockenes Grün in das umfassend spröde Gelb der Erde hineingemischt ist und durch die ein ungebremster Wind bläst, der den Staub aufwirbelt und das Gras zittern lässt.

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Das erste Bild zeigt etwas anderes: einen Wundverband, der um einen Kopf gewickelt ist. Mit einem Messer werden behutsam die Tackerklammern entfernt, die Binde wird abgezogen und zum Vorschein kommt eine lange Narbe – sie reicht von der Stirn bis zum Hinterkopf. Es ist Brady Blackburns Kopf, den wir hier sehen. Beim Rodeoreiten ist er vom Pferd gestürzt, und das Tier hat zu allem Übel auch noch gegen seinen Schädel getreten. Im Krankenhaus wurde ihm eine Metallplatte in den Kopf geschraubt, und weil er durch den Unfall eine motorische Störung davontrug (immer wieder ballen sich seine Finger zu einer Faust, die er dann mit der anderen Hand entkrampfen muss), raten ihm die Ärzte dringend, das Reiten und erst recht das Rodeoreiten für immer sein zu lassen. Aber es ist nicht nur Bradys Schädeldecke, die in diesem Film lädiert ist. Regisseurin Chloé Zhao (The Rider ist nach Songs My Brother Tought Me ihr zweiter Langfilm) spürt in dieser Welt am nördlichen Rand der USA nämlich eine grundsätzliche, allgemeine, tiefer liegende Versehrtheit auf. So kümmert sich Brady etwa fürsorglich um seine geistig behinderte jüngere Schwester Lilly oder besucht seinen, nach einem Rodeounfall schwerstbehinderten Freund Lane in einer Klinik. Und dann ist da noch das versehrte Pferd, der Gnadenschuss in den Kopf, das Echo des Knalls, der abgewendete Körper, der gesenkte Blick. Und genau aus diesen Gründen ist die erste Einstellung von einer Wunde, einer Narbe, die freigelegt wird, auch so emblematisch.

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Es geht in The Rider nicht nur um die private Geschichte von Brady, um den Scherbenhaufen seiner zerborstenen Träume, um den Widerstreit von Verantwortung, Identität, Tradition und Leidenschaft, wie er sich in diesem Film darstellt. Stattdessen: eine filmische Verbandsabnahme, Bloss­legung der Wunden und Narben eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus, genauer: der traditionsreichen und -bewussten Kultur Norddakotas. Chloé Zhaos optisches Modell, die Perspektive, die sie sucht, um hineinzuschauen in die Binnenstrukturen, in die Brüche und Risse dieser einerseits autarken, weitläufigen und andererseits durch Klinik- und Supermarktarchitektur wieder ins urbane amerikanische Gesellschaftsbild eingegliederten Welt, wird getragen von einer solidarisch-empathischen Hingezogenheit zu Natur und Figuren. Es ist der Blick einer Liebenden, Mitfühlenden, Zugehörigen. Die Wunden und Narben sind die Oberflächenphänomene brüchiger Seelen – an ihnen entlang tastet sich die Kamera ihren Weg hinein ins Denken und Fühlen, in die Trauer, die Sorgen und die Wahrnehmung der Figuren.

Solche filmischen Introspektionen sind stets eine Gratwanderung; sie drohen in eine befremdliche Mitleidslogik zu kippen, und schnell drohen auch die Narben und Wunden zur reinen Dekoration zu werden. Und tatsächlich gibt es Bilder in diesem Film, in denen die Kamera schon gefunden zu haben scheint, wonach sie noch zu suchen vorgibt: ein leerer Blick ins Feuer aus einer leichten Aufsicht, ein sich übergebender Körper vor einer schmutzigen Kloschüssel, halb (aber eben auch nur halb) von einem Türrahmen verdeckt.

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Die spannende Frage von The Rider ist aber ohnehin eine ganz andere; sie betrifft den Umgang des Films mit den ikonischen Klischees, aus denen die Oberflächen dieser prekären, anachronistischen Westernwelt zusammengesetzt sind: der Kautabak, die Stahlsaitengitarre, der Risikosprung über das Lagerfeuer, der Zahnstocher zwischen den Zähnen, die Cowboyhüte, die Wild-West-Steppe, der Rodeoritt, die ruhige Hand auf den schnaubenden Pferdenüstern und, ja, die untergehende, in ihre Strahlen zerberstende Sonne hinter den Zaunlatten.

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Solche Bilder sind die Ikonen einer vergangenen Welt. Die Bilder gibt es noch, aber die Welt dahinter gibt es nicht mehr. Und so verläuft der wohl tiefste Riss dieses Films durch solche Bilder, in denen wir Brady und sein Pferd sehen, durch Bilder von Rodeoturnieren, vom Pferdetraining oder vom Ritt durch die Prärie. Es sind Bilder mit einer unheimlichen, fast gespenstischen Ambivalenz. Erstens, weil das Spiel zwischen Mensch und Tier im Film stets eine dokumentarische (und entsprechend schockhafte) Unmittelbarkeit in sich trägt, die für einen Moment alle Künstlichkeit des Spielfilms aufhebt, wobei hinzukommt, dass sich die Darsteller_innen des Films selbst spielen und ihr Spiel damit immer schon mit einem Fuss im Dokumentarischen steht. Und zweitens, weil sich in ihnen das eigentliche Drama von The Rider offenbart: die Existenzkrise des Cowboys, ein erhalten gebliebener Ikonenhaushalt, aber ein verlorener Wert. Einmal sehen wir Brady – es ist das Bild, das am ergreifendsten mit der ersten Einstellung korreliert – arbeitend in einem Supermarkt. In Arbeitskluft geht er durch die Gänge, sortiert die Produkte, dann schwingt er den Handscanner durch die Luft, fängt ihn wieder und drückt auf den Auslöser – genau so, wie man früher einen Revolver zückte.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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