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Amori 3 lucia mascino carlotta natoli

Amori che non sanno stare al mondo

Claudia wettet auf die grosse Liebe, auch gegen alle Wahrscheinlichkeit, und droht damit vor allem sich selbst zu betrügen. Das Glück liegt anderswo.

Text: Philipp Stadelmaier / 04. Juli 2018

Schon in der ersten Einstellung gibt es viel zu sehen: Claudia liegt im diffusen hellen Morgenlicht auf ihrem Bett, und schon ein Blick auf sie verrät, dass sie hier schon viel zu lange liegt. Es ist schon lange hell, die Tageszeit unangemessen. Man sieht ihren Kummer, aber auch, dass sie eigentlich längst klarsieht. Man sieht, ohne ihre genauen Lebens- und Leidensumstände zu kennen, eine Wahrheit, die sie längst umgibt und ihren Kummer in einem anderen Licht erscheinen lässt. Doch für den Augenblick scheint sie sich noch dazu entschieden zu haben, sich in ihrem Leid aufzuhalten und in ihm zu baden wie im Licht.

All das kann man hier sehen, weswegen diese erhellende erste Szene noch etwas anderes zutage fördert: dass es sich bei der Regisseurin Francesca Comencini um eine Cineastin handelt, die in der Lage ist, zu zeigen – also uns ihre Hauptfigur zu enthüllen, ohne dass wir etwas anderes über sie zu wissen brauchen als das, was die Mise en Scène uns gibt. Wir haben die Wahrheit über Claudia schon gesehen, noch bevor sie kurz danach explizit wird: Auch Claudia kann ihre Augen nicht mehr vor der Tatsache verschliessen, dass ihre grosse Liebe, Flavio, der wie sie Literatur an der Universität lehrt, sie nach sieben Jahren komplizierter Beziehung endgültig verlassen hat. Er reagiert nicht mehr auf ihre Anrufe und die Nachrichten, die sie ihm massenweise hinterlässt. Traurig, aber wahr: Die gemeinsame Geschichte ist zu Ende.

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Aber Claudia lässt nicht locker. Es ist aus? Dann wird sie die Liebe eben alleine aufrechterhalten: «Es ist nicht vorbei, solange ich es nicht will.» Die Liebe ist vorbei – wir wissen es, und sie weiss es auch, aber sie weigert sich, dieses Wissen anzuerkennen. Sie fordert damit die Wahrheit selbst heraus. Der Film erzählt von einer Wette, die Claudia eingeht und wir mit ihr. Eine Wette um die Wahrheit: Wetten, dass Flavio die grosse, wahre Liebe meines Lebens ist? Und selbst wenn er sich endgültig von mir trennt – wer will mir das Gegenteil beweisen? Mit dieser Wette, so erfahren wir in Rückblenden, fing schon alles an. Und um sie zu gewinnen, sind Claudia alle Mittel recht. Schon als sie Flavio kennenlernt, auf einer Podiumsdiskussion an der Uni, ist sie im schieren Kampfmodus. Sie unterbricht ihn, fällt ihm ins Wort. Danach sagt sie ihm wie aus dem Nichts, dass sie in ihn verliebt ist. Die beiden werden ein Paar. Sie will sehr schnell sehr viel: Kinder, eine gemeinsame Zukunft, die Ehe. In der Nacht hält sie ihn wach, um mit ihm über ihre Wünsche zu reden. Für sie zählt auch die Arbeit nicht mehr. Ihr Motto: «Wir zerstören alles, unsere Jobs, unsere Leben.» Um die Wette zu gewinnen, muss sie kämpfen, selbst wenn daraus gar ein Zerstörungsfeldzug gegen den Geliebten wird.

Diese verzweifelte und erfolglose Wette auf die grosse Liebe war auch der Gegenstand des letzten Films von Claire Denis, [art:1227]. Da wollte eine Frau mit ähnlicher Besessenheit den Mann fürs Leben finden. Allerdings zeigte Denis serielle heterosexuelle Monogamie als unendliche und erfolglose Abfolge von Einzelnen. Comencini konzentriert sich dagegen auf ein einziges Begehrensobjekt, an dem sich die eigene Obsession austoben und aufreiben kann. Bei Denis bestand die Befreiung des Begehrens aus dem Gefängnis der ewigen Wiederkehr des Gleichen (gleiches Geschlecht, gleiche Hautfarbe, gleiche Klasse, gleicher «Typ» etc.) in einer zumindest angedeuteten «Öffnung» auf die ganze Welt, in einer Hinwendung zum Globalen. Bei Comencini ist es anders: Der Ausweg, das Glück jenseits der Obsession, liegt nicht in Vielheit und Heterogenität, als vielmehr in den Scherben der gescheiterten Beziehung selbst, in Erinnerungssplittern und Rückblenden.

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Gerade dieses Erzählen in Rückblenden erinnert an Vorbilder des modernen Kinos: Leben und Liebe sind nur noch durch die Erinnerung lebendig wie bei Federico Fellini; Details aus der Vergangenheit werden im Erinnerungsprozess schmerzhaft ausgegraben wie bei Ingmar Bergman. Sie sei wie die Stasi, sagt Claudia einmal, sie erinnere sich an alles, an dieses oder jenes Detail an diesem oder jenem Abend. Eine in Schwarzweiss gehaltene Sequenz in einem Hörsaal der Universität erinnert an die Träume des alten Professors in Bergmans Wilde Erdbeeren, wie auch an den fantasierten Frauenkongress in Fellinis La città delle donne: Eine Frau erklärt anderen Frauen, dass in der hetero-kapitalistischen Gesellschaft Frauen mit zunehmendem Alter stetig abgewertet werden, während man als Lesbe noch mit fünfzig als Teenager durchgehen kann.

Amori hat eine feministische Agenda. Claudia greift Flavio dafür an, dass er Liebesgeschichten mit Frauenliteratur gleichsetzt, und an anderer Stelle wird seine naive Vorstellung davon, wie Frauen zum Höhepunkt zu bringen seien, demontiert. Flavios typische Hetero-Männlichkeitssorgen (die Grösse des Penis, die Qualität der Performance beim Sex) weisen ihn als Relikt aus. Ungeachtet der auch aktuell so notwendigen Zerstörung derartiger Männlichkeitsmythen ist Comencinis Zugriff dennoch eher ein Oldschool-Fe­minismus im Stile des (zumeist männlich dominierten) Kinos der Sechziger und Siebzigerjahre à la Bergman, Fellini oder auch Woody Allen zuordnen, in dem der intellektuelle Krieg der Geschlechter zwar klassische Männlichkeit der Lächerlichkeit preisgibt, dabei aber die heteronormative Ordnung selbst unbeschadet lässt.

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Bei Comencini muss das Neue aus dem Alten gewonnen werden. Claudias Obsession wird zur Bedingung ihrer Emanzipation. Sie erkennt, dass ihr «Problem» mit Flavio darin bestand, zu selbstständig gewesen zu sein; dass sie um jeden Preis das antiquierte Frauenbild der obsessiv Liebenden verkörpern wollte und es so schlecht konnte. Wenn sie Flavio wollte, dann weniger, weil sie ihn wirklich wollte, sondern weil sie gewettet hat auf die wahre Liebe. Dabei verliert sie; und gewinnt dennoch: Ihre eigentliche Wahrheit ist die eigene Autonomie, die sie nur erkennen konnte, indem sie ihre Wette verlor.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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