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Beautiful Boy

In virtuos überlagerten Zeit‑, Musik- und Handlungsschichten erzählt Beautiful Boy die Geschichte einer Drogensucht und der Liebe eines Vaters zu seinem Sohn.

Text: Selina Hangartner / 23. Jan. 2019

Die Geschichte hat Brisanz: Medikamente und Rauschgift sind mittlerweile die Haupttodesursache bei Amerikaner_innen unter fünfzig. Mit diesen Worten schliesst Felix van Groeningens Verfilmung der 2008 erschienenen Memoiren «Beautiful Boy: A Father’s Journey Through His Son’s Addiction». Der US-amerikanische Journalist David Sheff erzählt darin von der schwierigen Beziehung zu seinem Crystal-Meth-abhängigen Sohn Nic. Beautiful Boy gelingt es, die vielschichtige, schmerzhafte Erfahrung spürbar zu machen, was es heisst, sein Kind immer wieder an die Drogensucht zu verlieren und es erst durch zahlreiche Rehabilitierungsversuche zurückzugewinnen – nur um es erneut zu verlieren.

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In Beautiful Boy geht es nicht um eine lineare Nacherzählung von Nics Biografie, um den Absturz eines eigentlich brillanten, vielleicht zu sensiblen Jungen, der schon früh mit Drogen experimentiert und bereits mit achtzehn Jahren einem immer härteren Kick nachjagen muss. Der Film setzt viel später in dieser Chronologie an, mit dem schamvollen Geständnis von Vater David, der über die Crystal-Meth-Sucht seines Sohns berichtet. David stockt. Schmerz, Angst und Wut sind ihm anzusehen. Irgendwann folgen wir seinem Wagen, wie er durch San Franciscos Strassen fährt, dem berühmt-berüchtigten Haight-Ashbury entlang, um unter den vielen und viel zu jungen Drogensüchtigen seinen eigenen Sohn auszumachen. Dieser sitzt auch Jahre nach seinem ersten Absturz wieder am gleichen Ort, unter den gleichen kühlen Neonlichtern auf der Motorhaube seines Autos, hin und her gerissen, aber nach zwei Jahren Abstinenz eigentlich hungrig nach einem chemisch induzierten Hoch. Wer kürzlich in Städten wie San Francisco oder Vancouver war, kennt dieses Gesicht der momentanen Drogenepidemie, die Beautiful Boy umso aktueller macht.

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Die Schichtung verschiedener Zeitebenen, das Hin und Her zwischen unbelasteter Vergangenheit und tieftrauriger Gegenwart, übersetzt in Beautiful Boy komplexe Gefühle auf die Leinwand; solche, die entstehen, wenn man jemanden liebt, aber zugleich von ihm enttäuscht ist, jemanden zu kennen glaubt, der einem doch fremd erscheint. Die Überlagerung unterschiedlicher Handlungsstränge verdeutlicht aber auch das Delirium, in dem sich Nic befinden muss, die scheinbar ausweglose Schleife an Rebounds, schmerzhaften Entzügen, aggressiven Hochs, Scham, Geldnot. Als Zuschauer_in kommt man unweigerlich ins Rätseln, wann und wo das Abrutschen begonnen haben mag. Ist der Vater zu kulant gewesen, als er vom scheinbar gelegentlichen Marihuanakonsum des Sohns erfahren hat? Welches Mass an Ängsten ist den anderen Familienmitgliedern, den jüngeren Halbgeschwistern zuzumuten? Denn dass man David Sheffs beiden jüngeren Kindern durch die Augen ihres Vaters gerade beim Aufwachsen zusieht, ihre momentane Unbekümmertheit, ihre ersten Fortschritte beobachtet, die man dank Rückblenden mit denen von Nic vergleichen kann, macht den Verlust des Älteren noch schmerzhafter. Was wird später aus diesem Kind werden, fragt man sich beim langsamen Heranzoomen an Sohn Jaspers Gesicht, der seinem grösseren Bruder gleicht.

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Die enge Vater-Sohn-Bindung wird im Film durch eine gemeinsame Vorliebe alternativer Musik verdeutlicht. Songs, die gespielt oder gesungen werden, verbinden als Tonbrücken die unterschiedlichen Zeitebenen; machen Freude in der einen, Verlust in der anderen noch grösser. So ist auch der Titel des Films John Lennons gleichnamigem Lied entnommen, das David früher dem jungen, verängstigten Nic vorgesungen hatte. Die Songzeile «Have no fear, the monster’s gone» lädt Szenen, in denen Nic unter seiner Drogensucht leidet und in denen nur die Melodie nachhallt, mit neuer Bedeutung auf. Auf diese Weise evozieren diese akustischen Anschlüsse über die Zeiten hinweg auch eine Nostalgie für vergangene Tage, wobei Beautiful Boy eine poetische Qualität erreicht, die fürs US-amerikanische Erzählkino noch immer unkonventionell erscheint. Der belgische Regisseur Felix van Groeningen spart auch einiges an Klischees aus, die Erzählungen zu «Teenager» und «Drogen» sonst gerne bemühen: Kein prekäres soziales Umfeld, kein Missbrauch und keine schlechten Noten dienen hier als Erklärungen, an denen sich David und wir uns klammern können, um Nics Abhängigkeit zu begreifen.

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Die Inszenierung verdankt ihre Intensität neben den interessanten Überlagerungen besonders den beiden Hauptdarstellern: Timothée Chalamet, schon im vergangenen Jahr in [art:call-me-your-name:Call Me by Your Name] und [art:lady-bird:Lady Bird] brillant, verleiht seiner Rolle des drogenabhängigen Nic Sheff eine körperliche Präsenz, die dem Publikum sprichwörtlich unter die Haut gehen mag. Auch Steve Carell gelingt es erneut, in einer dramatischen Rolle zu überzeugen.

Felix van Groeningen hatte sich bereits in seinem zweiten – noch in seiner Heimat Belgien produzierten – Film [art:belgica:Belgica] (2016) mit Musik, Drogen und Jugendkultur im Umfeld eines Genter Musikclubs auseinandergesetzt, wobei er schon damals (und ebenfalls durch die effektvolle Einbindung des Soundtracks) ästhetisch ansprechend, lebendig, aber noch linearer und deutlich konventioneller erzählte. Mit Beautiful Boy ist ihm ein berührender Film und vielschichtiges englischsprachiges Debüt gelungen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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