6 Underground

Michael Bay
Der Gegenschuss aus dem Inneren des Fleisches. Michael Bay verwandelt alles Sichtbare in Kinomaterie.
«Schuss-Gegenschuss» heisst eine der geläufigsten Montagekonventionen des Kinos. Verwendet wird sie insbesondere in Szenen, die zwei Gesprächspartner abwechselnd ins Bild setzen. Die semantische Nähe von Kamera und Gewehr, die in dieser Terminologie angelegt ist, hat Peter Tscherkassky 1987 in einem 22-sekündigen Found-Footage-Kürzestfilm auf den Punkt gebracht: In Shot Countershot (eine noch einmal zehn Sekunden kürzere Version gibt es auf Youtube) folgt auf den Gewehrschuss eines Westernhelden kein filmsprachlich-metaphorischer, sondern ein buchstäblicher, tödlicher Gegenschuss.
In 6 Underground, dem neuen Film von Michael Bay, gibt es eine Einstellung, die Tscherkasskys Film noch einen Schritt weiterdenkt: Ist es möglich, Kamera und Waffe noch enger oder zumindest anders aneinander zu ketten? Zum Beispiel, indem man das Geschoss zurückblicken lässt? Im Verlauf einer wüsten Actionszene ist eine Kugel in warmes, weiches, rotes Menschenfleisch eingedrungen und hat eine Schneise geschlagen. Jetzt befinden wir uns mit ihr, mit dem Projektil, im warmen, weichen, roten Fleisch, und schauen – ein klassischer Gegenschuss – durch den engen, runden Wundkanal hindurch nach draussen in die Welt.

Anders als bei Tscherkassky ist der blutige Gegenschuss bei Bay nicht Teil einer kohärenten filmtheoretischen Intervention, sondern einfach nur eine unter gefühlt Zehntausenden kurzen, flashartigen Einstellungen während einer High-Speed-Verfolgungsjagd durch die engen Gassen der Innenstadt von Florenz. Ein Abstecher ins Körperinnere, schnell rein in den Leib und sofort wieder woanders hin. Ein paar Einstellungen später wird die Kugel aus der Wunde herausoperiert, ohne Betäubung. Dazwischen (oder danach, oder davor) knallt ein Passant auf die Winschutzscheibe, den Fahrer kümmern die zivilen Opfer nicht die Bohne, Kopilot Ryan Reynolds gibt einen dummen Spruch zum Besten, die Scharfschützin auf dem Rücksitz bekommt einen Glamourshot spendiert. Irgendwann brettern wir dann durchs Museum, zertrümmern Kulturgut und reissen einen Michelangelo-Peniswitz ... Die Bay-Kinomaschine verwandelt alles Sichtbare in Kinomaterie, und was noch nicht sichtbar ist, wird eben sichtbar gemacht, per Wundkanal-Gegenschuss.
Kino als Autopsie am lebenden Objekt. Auge im Fleisch, Auge aus dem Fleisch. Irgendwann im Verlauf dieser vielleicht hemmungslosesten Filmszene des Kino- beziehungsweise in diesem Fall Netflixjahres kommt ein menschlicher Augapfel ins Spiel. Der wird wohl irgendjemandem aus dem Kopf herausgerissen worden sein, warum auch immer, jetzt hantiert jedenfalls Reynolds mit ihm herum, aber huch, da fliegt das Auge auf den Boden, in die Nähe des Gaspedals, es wird durch die Gegend geschleudert, es rutscht in ein Hosenbein oder sonstwohin, es wird gequetscht, beschmutzt, nach Strich und Faden misshandelt. Dem Auge wehtun, darum geht’s, aber nur, weil das Auge, unser Auge, nach diesem Schmerz verlangt.

Worum geht’s sonst? Reynolds ist Anführer und Finanzier einer Gruppe von Söldner_innen in eigener Mission, die um die Welt jetten, um Bösewichten das Handwerk zu legen. Offiziell sind die vier Männer und zwei Frauen nicht nur im Untergrund, sondern tot, sodass sie keiner offiziellen Stelle Rechenschaft ablegen müssen. Was auch heisst, dass der Patriotismus, der die meisten älteren Bay-Filme grundiert hatte, diesmal wegfällt zugunsten einer radikalen Exterritorialität, die nichts und niemand ausserhalb des eigenen Egos verpflichtet ist. Reynolds will sogar noch weitergehen und verbietet seinen Mitstreiter_innen, sich gegenseitig mit Namen anzusprechen, um noch die letzte Spur von Herkunft und Verwurzelung in der Welt auszulöschen. Stattdessen sollen sie auch füreinander nur über Nummern identifizierbar sein. Das geht den anderen fünf irgendwann zu weit. Ein wenig Buddy-Kitsch wird ja wohl erlaubt sein, und auch gegen gelegentlichen Sex unter Kolleg_innen – wir sind schliesslich alle jung und hot – ist doch sicherlich nichts einzuwenden.
Dennoch bleibt Reynolds der Dreh- und Angelpunkt. In gewisser Weise ist der ganze Film nur die logische Fortsetzung der bereits erwähnten menschenfeindlichen, passiv-aggressiven dummen Sprüche, die die Hauptfigur am laufenden Band von sich gibt: Bay macht, Hand in Hand mit Reynolds, menschenfeindliches und, ja, passiv-aggressives Krawallkino. Hinter all dem steckt ziemlich explizit auch ein politisches Programm. Bei wirklich jeder Gelegenheit macht Reynolds seiner Verachtung für alles, was nur im Entferntesten nach staatlichem Handeln und zivilgesellschaftlichen Strukturen aussieht, Luft. Nur der oder die Einzelne hat einen Wert, sagt er, und zwar gerade in der Vereinzelung, oder allerhöchstens noch im funktional ausdifferenzierten Einzelgängerteam.

Es geht darum, sich selbst aus der Kontinuität der Geschichte, der Nationalstaaten, der sozialen Gebundenheit schlechthin herauszunehmen. Das ist auch die Fluchtlinie der filmischen Dramaturgie. Nachdem in der epischen ersten Verfolgungsszene eine programmatische Spur der Verwüstung durch das alteuropäische Florenz gelegt wird, spielt der Rest des Films in quasi entmaterialisierten Räumen. Zunächst geht es nach Las Vegas, in die Stadt der Simulakren, dann folgen, für einen ziemlich perfekt designten, bei allem Krawall doch eleganten, fast ins Abstrakte hinübergleitenden Actionparkour, die spiegelglatten und psychedelisch bunten Hochhauswelten Hongkongs, und fürs Finale zaubert Bay eine abstruse Bananenrepublik namens Turgistan herbei, in der diverse Klimazonen und Kulturkreise schauwerteoptimiert zusammengepanscht werden.
Von der musealen Rennaissancestadt zur hybriden Pulpkinofantasie. Das ist beknackt, aber konsequent, wie der ganze Film (Bays Kino inkohärent zu nennen heisst, sie nicht ernst genug zu nehmen; auf seine Art ist da alles ziemlich aus einem Guss, kinematographisch, ideologisch, habituell). 6 Underground hat den Vorzug der Schamlosigkeit. Mehr noch als in den vom Franchiseüberbau stets ein wenig ausgebremsten Transformers-Filmen, mehr auch als in den filmtechnisch sorgfältiger verarbeiteten Pain & Gain und 13 Hours regiert hier das amoralische Lustprinzip und sonst gar nichts. Ein regressiver Film, klar, aber gleichzeitig einer, der Dinge sichtbar macht, die dem aufgeklärten, kulturbürgerlichen Qualitätskinoblick verborgen bleiben.

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