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Silencios 05

Los silencios

Ein Dorf auf einer Amazonasinsel wird zum Schauplatz einer naturalistischen Fabel, die zwischen Lebenden und Toten vermittelt.

Text: Patrick Straumann / 15. Juli 2019

Grenzen sind insofern von Interesse, als man sie überschreiten kann. Dies demonstriert Beatriz Seigner mit Los silencios, einem Film, der sowohl in ästhetischer als auch in erzählerischer Hinsicht von einer beeindruckenden Geschlossenheit ist. Die Handlung spielt auf einer Insel im oberen Amazonas zwischen den Landesgrenzen von Peru, Kolumbien und Brasilien, in einem Dorf, das sich in seiner äusseren Erscheinung nicht von anderen tropischen Ansiedlungen unterscheiden lässt. Die Holzhäuser sind auf Pfählen gebaut, enge Stege bewahren die Fussgänger_innen vor dem Hochwasser. Tagsüber ist die Stille vom Surren der Insekten überdeckt, nachts spiegeln sich die Gaslaternen im Fluss.

Amparo landet auf der Insel, weil ihr Mann den Bürgerkriegswirren zwischen den Truppen der Farc, den Milizen und der regulären Armee Kolumbiens zum Opfer gefallen ist. Mit der Ankunft beginnt für sie und ihre Kinder Nuria und Fabio ein Immigrantenleben, das die Kamera in der Folge in schlichten und unspektakulären Einstellungen zeichnen wird. Der Sohn muss eingeschult werden, wobei die Anschaffung der Schul­uniform rasch zum finanziellen Problem wird. Die Verwaltung will Beweise der durchlebten Verfolgung sehen (Amparo legt Aufnahmen vor, dem Publikum bleiben die Bilder der Massaker erspart); von juristischer Seite muss sie sich anhören, dass ihre Lage klarer wäre, wenn der Leichnam ihres Mannes auftauchen würde. Auch die Inselbevölkerung, die ihre selbst gewählte Isolation nicht verlieren will, sieht der Ankunft der Flüchtlinge mit gemischten Gefühlen entgegen.

Silencios 01

Mit souveräner Beiläufigkeit legt Beatriz Seigner in der Folge die tiefere Dimension des Films frei. Bald taucht der Geist von Amparos Mann Adam an ihrer Seite auf, allerdings nicht als Erinnerungsbild eines Trauer und Andenken einfordernden Toten, eher in Gestalt eines wiederkehrenden Begleiters, dessen stumme Präsenz auf eine ungebrochene Vertrautheit schliessen lässt. Später wird Amparos Sohn die Stiefel des Vaters anziehen und dessen Gewehr behändigen; auch unter der Dorfbevölkerung mögen sich Geister befinden ­– dies ein Verdacht, der sich immer mehr verdichten wird –, die sich unter die Lebenden begeben haben. In diesem Zusammenleben von Menschen und Toten zeigt sich der singuläre Status der Insel: Der abgeschnittene Landstrich ist nicht nur den Schwankungen des Wasserspiegels unterworfen, der Ort wird auch zur Schnittstelle, an der die Räume und Zeiten ineinanderfliessen können.

Es ist der Nüchternheit der Regieführung zuzuschreiben, dass die Übergänge von einer Welt zur anderen mit der nötigen Leichtigkeit vonstattengehen. Das Underacting von Enrique Díaz in der Rolle des verstorbenen Mannes und die sorgsame Lichtsetzung, die die Räume oft zur Hälfte im Dunkel versinken lässt, öffnen der Wahrnehmung neue Perspektiven und verleihen der Handlung eine stimulierende Vieldeutigkeit. Welchen Status soll man der Bürgerversammlung einräumen, die vom «Präsidenten» der Gemeinschaft einberufen wird, um die Anwohner_innen über die Pläne ausländischer Investoren zu informieren? Finanzkräftige Firmen wollen die Häuser aufkaufen, um auf der Insel ein Casino zu bauen und die Region in ein touristisches Zentrum zu verwandeln. Das Vorhaben der Investoren erscheint weniger blutig, aber ähnlich entfremdend wie der Kampf um die kolumbianischen Ölreserven, der die Flüchtlingswellen erst ausgelöst hatte. Hier jedoch, im basisdemokratischen Prozess, in dem jeder Meinung Beachtung und Redezeit zugestanden wird, kann die Bevölkerung gemeinsam über die eigene Zukunft entscheiden.

Silencios 03

Hat sich Seigner entschlossen, ihrem Drama eine utopische Grundierung zu verleihen? In einer zweiten, symmetrisch angelegten Versammlung, vollzieht der Film eine weitere Wende. In einem nachts einberufenen Treffen sind es die Verstorbenen, die über Fragen um Schuld, Sühne und Vergeben debattieren. Der Fokus weitet sich erneut: Zu den Verschwundenen zählen nicht nur die Opfer der jüngsten Guerillakriege, auch der lautlose, Jahrhunderte währende Mord an der indianischen Bevölkerung wird gegenwärtig. Fluoreszierende Körperbemalungen, subtil eingesetzt, setzen den Verschwundenen ein leuchtendes Denkmal und installieren Los silencios in einem Zwischenbereich, in dem der Naturalismus und die magische Fabel in eine ebenso fragile wie einnehmende Verbindung treten.

Silencios 02

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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