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Familia sumergida

Nicht nur der familiäre Alltag hüllt die dreifache Mutter Marcela wie in einen Kokon ein, sondern auch die Dingwelt des Hauses, durch das sie sich bewegt. Eine Familiengeschichte, übers Stoffliche erzählt.

Text: Olga Baruk / 30. Juli 2019

Familienkram, Erbe und Nachlass – es scheint, als spielten Dinge und Besitz im lateinamerikanischen Kino eine besonders prominente Rolle. [art:las-herederas:Las herederas] (2018) von Marcelo Martinessi breitet gleich am Anfang die stolzen Überreste eines einstigen Wohlstands aus: solides Mobiliar, teure Geschirrsets und Silberbesteck. Gebraucht, aber gut erhalten, zum Verkauf in Not. Chao­tisch zwar, aber nicht unähnlich in La ciénaga (2001) von Lucrecia Martel: vor lauter Inhalt platzende Kleiderschränke, Handtücher und Bettwäsche, wohin man blickt, die zudem noch Gesprächsstoff liefern. Leblos und wie angewurzelt wirken selbst die Figuren, an den Kristallgläsern kleben Rotweinreste, über den Pool ist Gras gewachsen.

Familia sumergida, das Langfilmdebüt der Schauspielerin, Drehbuchautorin und Produzentin María Alché, die wie Martel aus Argentinien kommt und in deren La niña santa (2004) die Hauptrolle spielte, schliesst an diese Gepflogenheit an. Allzu gern möchte man die Gegenstände, Texturen und Farben dieses Films aufzählen. Er ist haptisch, geradezu textil und beginnt mit Bildern des Tastens. Marcela ist die Frau, die uns in dieser kurzen, aber eindringlichen Szene als Agentin und Objekt eines anderen, blinden Sehens verborgen bleibt. Anschliessend tritt sie hinter den Vorhängen (goldbraun, schwer, mit Stickereien versehen) hervor und in den Film hinein, als käme sie gerade aus einer anderen Welt.

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Eigentlich lebt Marcela als Ehefrau und dreifache Mutter einen ganz normalen Wahnsinn. Im permanenten Ausnahmezustand und mit dauerhaft besetztem Badezimmer, mit Teenage-Gezanke und laut zuknallenden Türen in aller Frühe, mit Haushaltsgeräten ausser Betrieb und sich ansammelnder Schmutzwäsche. Aber auch mit Augenblicken von grosser Vertrautheit und fantasievollem Spass. Marcela lebt in ihren Alltag eingehüllt und verliert dabei, das kommt schon häufig vor, sich selbst ein wenig aus den Augen. Nach dem Tod ihrer Schwester Rina ist sie diejenige, die die gebliebenen Dinge sortiert: Es geht los mit Tappen, Tasten, Fühlen. Stoffe, die andere Stoffe umwickeln, die Möbel schmücken und schützen. Sofaumhänge, dekorative Panneaus und Wandteppiche, leichte, durchsichtige Schals, Schmuckkissen mit aufwendiger Verzierung, zerknitterte Küchentücher. Das Stoffliche, das Gestrickte und Gehäkelte stehen für Rinas Hobbys und Gedanken, für einsame Stunden. Für das, was Rina war und was sie hätte werden können. Für all das, was zwischen den beiden Schwestern ungesagt und ungefragt geblieben ist. Kann es sein, dass Marcela auch sonst etwas zu still und zu bescheiden geworden ist?

Mit dem grossen Verlust und der damit verbundenen Erbschaft wird in Marcelas Leben einiges anders werden. Eine neue mysteriöse Bekanntschaft tritt in ihr Leben hinein – achtet auf die Vorhänge! Nacho, Freund eines Freundes, ein sensibler junger Mann ohne Bleibe und Aussichten, steckt förmlich im Dazwischen. Er hilft Marcela beim Sortieren des Nachlasses und entführt sie dann in die Natur, in der sich die beiden verirren. Auch in Marcelas Wohnzimmer fühlen wir uns vor lauter Zimmerpflanzen mittlerweile wie im Dschungel. Erinnerungen und Erfahrungen verweben sich traumartig, die Zeit wirft Falten. Die Geister der gestorbenen Verwandten erstatten ihr Besuche, leibhaftig, aufgetakelt mit Blusen und Broschen und mit für heutige Verhältnisse indezent aufgetragenem Make-up lassen sie sich Kaffee servieren und verbreiten Familiengossip.

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Das alles inszeniert María Alché als Verrücktwerden, als Folgen eines Schmerzes, gewiss, aber auch als Momente lehrreicher Perzeption, genauen Hinschauens und Klärung. Familia sumergida ist eine wundersame Familiengeschichte, die den banalen Alltag in ein Rätsel verwandelt. Und eine Geschichte des weiblichen Erwachens, die nicht nur der Hauptfigur gewidmet, sondern für die Generationen vor und nach ihr miterzählt wird. Feminin geerdet bleibt dieses Erwachen, aber auch magisch, und – als wäre das nicht genug – streut die Regisseurin grosszügig einige Passagen des grossen mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart in ihren Film ein. «Werd wie ein Kind, werd taub, werd blind», heisst es im zitierten Senfkorn-Lied, dem «Granum sinapis». Oder: «Es hier, es da, es fern, es nach, es tief, es hoch – es ist dennoch von allem wseder dies noch das.»

Weder dies noch das – was soll das sein? Die Kamera von Hélène Louvart (Beach Rats, [art:lazzaro-felice:Lazzaro felice]) antwortet mit sanften, schmeichelhaft samtigen und zurückhaltend erotischen Bildern, als wären sie mit einem Schleier überzogen. Mit Oberflächen, die von innen glühen und strahlen, die allesamt eine innere Sonne in sich zu verbergen scheinen. Aus diesem Uneindeutigen und Unscharfen entspinnt Familia sumergida sein Schwellenwissen. Am Schluss steht Marcela vor dem offenen Fenster und lächelt geheimnisvoll. Wer weiss, was sie denkt, wer weiss, was sie vorhat. Marcela, eine Frau, die etwas gesehen hat.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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