Joker

Todd Phillips
Trauriger Clown auf Abwegen: Der Venedig-Gewinner Joker beginnt als New-Hollywood-Hommage und endet als Blockbuster.
«You talkin’ to me?»: Robert De Niros herausfordernder Blick in den Spiegel ist die berühmteste Szene aus Martin Scorseses Taxi Driver, wenn nicht des gesamten Hollywoodkinos der 1970er Jahre. Jedenfalls verwundert es nicht, dass Todd Phillips in Joker, einer als Superhelden- oder Superschurken-Origin-Story verkleideten Hommage an De Niro, Scorsese und New Hollywood, diesen Blick gleich mehrmals zitiert. In gewisser Weise ist das der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Films: ein Mann alleine vor dem Spiegel. Gleich in der ersten Szene blickt Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) auf seine Reflektion und versucht verzweifelt, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. Schon hier zeigt sich freilich eine Differenz zu Scorsese: Wo sich Travis Bickle mit dem imaginären Überschuss des Spiegelbilds, das ihm entgegentritt, fehlidentifiziert, ist sein eigener Anblick für den späteren Joker ganz im Gegenteil ein Makel, den es zu korrigieren oder zu transzendieren gilt. Für Fleck wird gerade die Tatsache, dass er sich keine Illusionen über seine reale Lage macht, zum Verhängnis. Die Arbeit am Selbstbild führt auf geradem Weg ins Chaos.
Fleck befindet sich in dieser ersten Szene in der Garderobe einer Agentur für Partyclowns, bei der er angestellt ist. Es folgen Szenen eines ziemlich deprimierenden, prekären Grossstadtalltags, gezeichnet in den rostig-matten Farben New Hollywoods: Ein schon für sich selbst demütigender Arbeitseinsatz endet für Fleck mit einer Tracht Prügel, woraufhin er auch noch von seinem Boss zusammengefaltet wird; selbst seine allesamt ähnlich perspektivlosen Clownkollegen haben nur Spott für ihn übrig. Geknickt schleicht er durch schmutzig-feuchte Strassen (der Film gibt sich nicht die geringste Mühe, sein «Gotham City» nach etwas anderem als dem hauptsächlichen Drehort New York aussehen zu lassen) und während einer Busfahrt jagt er einem kleinen Jungen, der ihn zunächst neugierig angeschaut hatte, mit einem wüsten Lachanfall Angst und Schrecke ein. Diese unkontrollierbaren Lachattacken sind nur die offensichtlichsten Anzeichen einer schweren psychischen Störung; lediglich eine ganze Batterie von Psychopharmaka hält ihn einigermassen über Wasser.

Ausgerechnet die einzigen beiden kleinen Lichtblicke innerhalb der trüben Existenz Flecks sind Vorboten der noch finstereren Wendung, die der Film nach seinem ersten (und besten) Drittel nehmen wird: Im Aufzug weckt die spielerisch-theatrale Verzweiflungsgeste einer gestressten jungen, hübschen Nachbarin in ihm Hoffnungen auf eine tiefergehende Verbindung; ein erstes Anzeichen für den drohenden Realitätsverlust. In der Wohnung angekommen, die er sich mit seiner Mutter teilt, legt der traurige Clown sich anschliessend gemeinsam mit dieser vor den Fernseher, um sich seine Lieblingssendung anzuschauen: ein dezidiert harmloses, von Murray Franklin (Robert de Niro) moderiertes Comedyprogramm.
Für Fleck, der in seiner Freizeit an einem eigenen Stand-up-Programm feilt, ist Franklin das grosse Vorbild, vielleicht sogar ein alternatives, idealisiertes Spiegelbild, in das sich ausserdem eine filmhistorische Differenz einschreibt. Die Figur Franklin wie auch ihr Darsteller bringen auf recht plakative Weise einen zweiten Scorsese-Film ins Spiel: In King of Comedy hatte De Niro selbst einen derangierten Nachwuchskomiker verkörpert, der ebenfalls einen anderen, erfolgreicheren Kollegen zum Vorbild auserkoren hatte. Hier nun ist De Niro das Original, als dessen fehlerhafte Kopie sich Phoenix erkennt. Oder, mit Marx gesprochen: (Film-)Geschichte wiederholt sich, «das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.»
Einmal als Tragödie, einmal als Farce: Der Graben, der King of Comedy von dem in Venedig überraschend mit dem goldenen Löwen ausgezeichneten Joker und, vielleicht noch mehr, die jeweiligen Hauptdarsteller der Filme voneinander trennt, ist letztlich unüberbrückbar. Im Vergleich mit De Niros zwar energiegeladenem, aber letztlich ziemlich relaxtem, von einer unerschütterlichen Coolness unterfüttertem Method Acting wirkt Phoenix’ enthemmte Performance fast wie der Auftritt eines Jahrmarktkünstlers. Tatsächlich hat sich der Schauspieler für seine Rolle ziemlich bizarr heruntergehungert, die Szenen, in denen er oben ohne – vor dem Spiegel, wo sonst – tanzt, haben etwas von einer exhibitionistischen Freakshow. Die Psychosen, die bei De Niro langsam hervorbrechen, als zunächst schwer lesbare Störsignale in einem plötzlich nicht mehr ganz harmonischen Bild, kleben bei Phoenix von Anfang an an der mimischen und gestischen Oberfläche.

Phoenix’ Spiel hat etwas Überspitztes, Aufdringliches an sich – was der Figur zumindest insoweit angemessen ist, als psychische Krankheiten sich im Alltag oft in vermeintlich unangemessenen Übertretungen und Normverletzungen manifestieren, wodurch sich der Leidensdruck der Betroffenen gleich noch einmal erhöht. Auch dieser Teufelskreis wird in Phillips’ Film direkt thematisiert, wie man überhaupt feststellen kann, dass der Regisseur der nicht unbedingt für ihre Menschenfreundlichkeit bekannten Hangover-Filme die Leiden seiner Hauptfigur auf überraschend sorgfältige und empathische Weise evoziert. (Nicht nur inhaltlich falsch, sondern richtiggehend bösartig wirken vor diesem Hintergrund die nach der Venedig-Premiere erhobenen Vorwürfe, Flecks Figur würde die «Incel-Kultur», beziehungsweise ein in Gewalt umschlagendes Selbstmitleid weisser Männer zelebrieren.)
Konsequenterweise beginnt die Wendung hin zum (noch) Schlimmeren damit, dass Fleck seine Medikamente absetzt - unfreiwillig, weil ein Sozialprogramm, das ihm ein klein wenig Halt geboten hatte, gestrichen wird. Tatsächlich verliert der Film diese Perspektive nie ganz aus den Augen: Alles was folgt – beginnend mit einem Dreifachmord, der den in der Öffentlichkeit bis auf weiteres namenlosen Clown über Nacht in einen Volkshelden verwandelt – ist lesbar als Manifestation einer langsam, aber unaufhörlich eskalierenden Psychose. Dennoch verliert der Film nach diesem ersten Adrenalinschub einiges an Reiz. Der vorher ebenfalls an den New-Hollywood-Vorbildern orientierte erratisch-synkopische Erzählrhythmus wird einer eindimensionalen Steigerungsdramaturgie unterworfen, auf der Tonspur machen sich unangenehm wuchtige Streicherarrangements breit, eine eher konfuse Nebenhandlung um Flecks Mutter arbeitet den Fans der Comicvorlage – und einem wohl jetzt bereits unvermeidlichen Sequel – zu, während sich die schnell eskalierende Joker-Mania auf den Strassen Gotham Citys sicherlich irgendwie als Kommentar zur politischen Gegenwart verstanden wissen will. Nur wie konkret? Toben da die Trumpisten? Oder Occupy Wall Street? Oder handelt es sich, unter allen Optionen noch die interessanteste, um einen x-beliebigen Twittermob? Kurz und gut: Je länger der Film dauert, desto deutlicher verwandelt sich Joker in einen jener gleichzeitig schematischen und chaotischen Blockbuster, von denen er sich zunächst einigermassen überzeugend emanzipiert hatte.

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