Little Joe

Jessica Hausner
Eine Pflanze, die glücklich macht – kann das gut gehen? Jessica Hausners dystopische Science-Fiction aus der Gegenwart als Anleitung zum Unglücklichsein.
«There are simply no symptoms.» Was man nicht wahrhaben will, das möchte man oft nicht erkennen. Oder falls man es doch erkannt hat, nicht gelten lassen. So wie der Chefwissenschaftler jenes Labors, in dem Alice (Emily Beecham mit blasser Haut und rotem Pagen-kopf) unermüdlich nach einer neuen Pflanzensorte forscht. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen hat die unnahbar wirkende junge Frau jahrelang an deren Entwicklung gearbeitet. Das Geheimnis von Little Joe, wie Alice die Pflanze benannt hat, heisst Oxytocin, ein von der Blume ausgestossener Botenstoff, der die Menschen glücklich macht – eine liebevolle, anspruchsvolle Pflege vorausgesetzt. Wer mit Little Joe spricht, den erwartet jener selig machende Duft, den die Pflanze verströmt und der nicht nur einsame Menschen glücklich machen soll. Doch um sie zur Freigabe des Stoffs zu bringen, musste Alice die natürliche Fortpflanzung der Blume unterbinden – ein Eingriff in die Natur, der sich rächt.
Kurz vor ihrer öffentlichen Präsentation häufen sich merkwürdige Zwischenfälle. Zunächst war es nur der Hund einer älteren Kollegin, der sich nach einem unfreiwilligen nächtlichen Aufenthalt im Labor sonderbar verhalten hat, nun scheint die seltsame Verwandlung auch auf Menschen überzugreifen. Äusserlich ist kein Unterschied zu sehen, doch Sprache, Blicke und Gesten lassen Zweifel daran aufkommen, ob hier nicht ein buchstäblich wesentlicher Austausch stattgefunden hat. Dass Alice’ Vorgesetzter diese Veränderung nicht wahrhaben und «keine Symptome» bemerken will, verstärkt ihren bereits keimenden Verdacht: Little Joe hat die Herrschaft und die Kontrolle übernommen.

Little Joe strahlt in tiefstem Rot, schön und unheimlich zugleich. Die Blüte gleicht einer stacheligen Kugel. Selbstverständlich gibt es nicht nur ein Exemplar – das Gewächshaus in dem britischen Hightech-Forschungsinstitut, in dem Alice und ihr Team unter strengsten hygienischen Vorgaben jede einzelne Pflanze rund um die Uhr versorgen, ist ein rotes Blütenmeer.
Jessica Hausner greift für Little Joe auf ein populäres Motiv der Filmgeschichte zurück: auf das ausser Kontrolle geratene wissenschaftliche Experiment, dessen Anziehungskraft unmittelbar mit dem Kino als Massenmedium zusammenhängt. Der von Menschenhand verursachte Schrecken trifft uns am Ende selbst. Wenn die Kamera von Martin Gschlacht gleich zu Beginn des Films durch das Gewächshaus gleitet, in dem die Pflanzen auf Edelstahltischen nebe-neinander in ihren Behältern aufgefädelt gedeihen, wird das Bild des Schreckens bereits vorweggenommen: Was die einzelne Blume nicht zu verrichten – und zu vernichten – vermag, das wird ihr mithilfe der massenhaften Reproduktion gelingen. Das Glück, das Little Joe verspricht, wird sich ins Unglück wenden.
Wie ihre bisherigen Arbeiten inszeniert Jessica Hausner auch ihren ersten englischsprachigen Film mit der für sie typischen Formstrenge. Komplexe Kadrierungen und langsame, einprägsame Fahrten verstärken den Sog des Unheimlichen, der in der Erzählung schon angelegt ist. Immer wieder tastet die Kamera Oberflächen ab und lässt erahnen, was sich hinter der klinischen Sauberkeit dieser Forschungseinrichtung verbirgt. Es ist ein suchender, nahezu insistierender Blick, der Hausners Handschrift als Filmautorin seit vielen Jahren prägt und der in den Fokus rückt, was nicht nur hinter den sichtbaren Zeichen und Dingen, sondern auch unter der gesellschaftlichen Oberfläche gefährlich schlummert: die Einsamkeit und die damit einhergehende Entfremdung. Vom frühen Coming-of-Age-Drama Lovely Rita über das Haunted-House-Horrorstück Hotel, von der historischen Gesellschaftstragödie über Kleists Todessehnsucht Amour Fou bis hin zum Katholizismus und seinen Erlösung versprechenden Ritualen in Lourdes ergründen Hausners Filme stets die Angst des Menschen vor dem Zurückgeworfensein auf sich selbst.

Little Joe verbleibt bis auf wenige Aussenaufnahmen in Innenräumen. Im Gewächshaus, in der klinisch sauberen Firmenmensa und in der Wohnung von Alice, in der sie als Alleinerziehende mit ihrem jugendlichen Sohn Joe – Namenspatron der Pflanze – lebt. Nur ihr Exmann, ein zivilisationsmüder Aussteiger, bewohnt ein kleines Häuschen zwischen grünen Hügeln. Er hat das selbst gewählte Alleinsein der Einsamkeit unter vielen vorgezogen.
Die filmhistorischen Verweise, auf die sich Little Joe manchmal deutlich, bisweilen versteckt bezieht, reichen von Frankenstein über The Fly bis zu Invasion of the Body Snatchers. In dieser Hinsicht erfüllt Hausner die tradierten Erwartungshaltungen an das Genrekino nahezu bedingungslos. Das ist auch wesentlicher Grund dafür, warum Little Joe nicht aufgrund einer besonders überraschenden Erzählung, sondern eher dank seiner elaborierten Ästhetik, seiner kühlen Stimmungsbilder und des enervierenden Soundtracks des japanischen Avantgardekomponisten Teiji Ito fasziniert.

Den Figuren allerdings, allen voran Alice, bleibt jede Entwicklung verwehrt. Natürlich reagiert die Wissenschaftlerin auf die Veränderungen in ihrer Umgebung, lassen die zunehmenden Zwischenfälle und Auffälligkeiten sie zunächst an der Identität der sie umgebenden Menschen und schliesslich am eigenen Verstand zweifeln. Doch so gross der thematische Interpretationsspielraum von Little Joe auch ist – zwischen persönlicher Sinnsuche und gesellschaftlichem Glücksversprechen, toxic masculinity und final girl, Technikgläubigkeit und Verschwörungstheorien –, so klein bleibt der Handlungsspielraum seiner Figuren. Alles steht bis zum vermeintlich offenen Ende fest.
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