Les Misérables

Ladj Ly
Mehr als 150 Jahre nach dem Erscheinen von Victor Hugos berühmtem Roman findet Ladj Ly die Essenz dieses Werks in den französischen Banlieus wieder.
Nach der Schlussblende, vor dem Abspann gibt Regisseur Ladj Ly uns ein Zitat aus Victor Hugos gleichnamigen Roman mit auf den Weg: «Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloss schlechte Gärtner». Ein solch literarisches Nachwort mag dazu ermuntern, über die im Film vorgeführten Schicksale und deren Schuld oder Unschuld noch einmal zu reflektieren und die eigene Gefühlswelt zu hinterfragen. Zwar wird diese durch die vorgeführten Personen und ihre Handlungen herausgefordert – aber die Verhältnisse sind eben so.
Montfermeil, ein Vorort von Paris, ist der Handlungsort des Films. Er wurde 2005 durch Unruhen bekannt, bei denen zwei Jungen starben. Im Jahr darauf wurden Tausende festgenommen, an die 8000 Autos brannten. Polizist Stéphane (Damien Bonnard) wird dorthin versetzt, den Kollegen Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) zugeordnet. Ein Dreierbündnis, durch die Aufgaben zusammengehalten, aber nicht durch die moralische Haltung. Montfermeil ist ein Ort der Zugewanderten, der sozial oder auch religiös anders funktioniert als das mitteleuropäische Selbstbild es gerne hätte. Mit leichter Hand stellt der noch immer in dieser Gemeinde lebende Regisseur diese Menschen vor, ohne den Spannungsbogen zu vernachlässigen.

Die drei Charaktere in ihrem Peugeot lösen mit ihrem Verhalten bei Kindern wie Erwachsenen Emotionen aus. Chris spottet zunächst über den sich korrekt verhaltenden Stéphane. Das ändert sich später, wenn ein eher unbedeutendes Vergehen am Rande ̶ ein Löwenbaby eines kleinen Zirkus wird von einem Jungen gestohlen – Konfusionen und Aggressionen auslöst. Eine Reihe von Charakteren werden wir bei der Suche nach dem kleinen Dieb kennenlernen: vom eher schweigsamen, aber selbstbewusste Autorität ausstrahlenden muslimischen Kebabladenbetreiber bis zum selbsternannten zwielichtigen schwarzen Bürgermeister. Als bei der Suche nach dem Übeltäter der eher sanfte Polizist Gwada mit einem Gummigeschoss den Jungen erheblich verletzt, spitzt sich die Situation zu. Die Tat wurde von einer Drohne gefilmt, die von einem kleinen Jungen hauptsächlich zum Ausspähen von Intimitäten aktiviert wurde. Nun beginnt die Jagd von Chris und Gwada nach dem Speicherchip, um die Tat zu verheimlichen. Stéphane macht seine moralische Haltung geltend und versucht, sich gegen dieses Schweigen zu wenden und sich um den Verletzten zu kümmern. Der Aufstand der Kinder aber ist nicht aufzuhalten, auch gegen die scheinbaren Autoritäten unter der Bevölkerung. Stéphane ist mit der Aufgabe konfrontiert, in der Auseinandersetzung mit den kindlichen Widersachern eine Tragödie mit Tod und Zerstörung zu verhindern.
Der aus Mali stammende Regisseur Ladj Ly ist als Kenner und Bewohner des Viertels Les Bosquets in Montfermeil geradezu dafür prädestiniert, das Leben und Treiben seiner eigenen Lebensumwelt in dramaturgisch und filmisch zu komprimieren. Es gelingt ihm, die Gespaltenheit der französischen Gesellschaft, die vor allen im Zentrum des Landes ausgeprägt ist, in emotional stimulierende Bilder zu übersetzen. Der Kontrast der Anfangssequenzen, der Jugendlichen zeigt, die über den französischen Sieg bei der Fussballweltmeisterschaft jubeln, zum Schluss des Films mit seiner gewalttätigen Auseinandersetzung macht deutlich, welche Schwierigkeiten Integration zu überwinden hat.

Vor diesem, seinem Erstlingsspielfilm hat Ly Videos und Kurzfilme gedreht, die die Gewalt seiner Umwelt dokumentierten und auch zu einer Verurteilung von Polizeigewalt führten. In Les Misérables nun finden Analyse, Engagement und eine gute Auswahl der Darstelller_innen zusammen, um ein stimmiges Bild der Probleme der französischen Gesellschaft zu zeichnen – unterhaltend und trotzdem Mitgefühl stimulierend. Victor Hugo, Lys literarisches Vorbild, hat in seinem Vorwort zum Roman geschrieben: «Solange nach Gesetz und Sitte eine soziale Verdammnis besteht, die künstlich inmitten der Zivilisation Höllen schafft... solange es auf Erden Unwissenheit und Elend gibt, können Bücher dieser Art nicht ohne Wert sein». Über 150 Jahre später könnte man das auch über Ladj Lys Film sagen.

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