W. Was von der Lüge bleibt

Rolando Colla
Ein Schweizer gibt sich als Überlebender der Shoah aus. Doch sein Betrug wird entdeckt. Mehr als zwanzig Jahre später bringt Regisseur Rolando Colla den zurückgezogen lebenden Betrüger erstmals wieder vor eine Kamera.
Die ganze Welt glaubte Bruno Dössekkers Geschichte, die ganze Welt nahm Anteil an seinem Schicksal als kleines Kind im Konzentrationslager. Überallhin lud man ihn ein, damit er davon erzähle, was ihm widerfahren ist. Menschen dankten ihm für seine Offenheit, dafür, dass er seine Erinnerungen in so treffende Worte zu fassen vermochte. Private Organisationen und öffentliche Institutionen verliehen Bruno Dössekker Ehrungen und Würden, von der Stadt Zürich erhielt er gar den mit 50 000 Franken dotierten Kulturpreis. Die besten Zeitungen der Welt schrieben nur in den höchsten von seinem Werk.
Bruno Dössekker war ein angesehener Mann, sein 1995 erschienenes Buch «Bruchstücke» zählte zu den besten Texten über den Holocaust. Bis drei Jahre darauf der Journalist Daniel Ganzfried beauftragt wurde, ein Porträt über ihn zu schreiben, zu recherchieren begann und plötzlich den ungeheuerlichen Verdacht hegte, dass Dössekkers Autobiographie möglicherweise gefälscht sein könnte. Und dass Bruno Dössekker, der sich Binjamin Wilkomirski nannte, also weder jüdischer Abstammung war noch seine Kindheit in Riga verbracht hatte. Dössekker, so zeichnete sich im Lauf von Ganzfrieds Nachforschungen immer deutlicher ab, war weder in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz interniert gewesen, noch lebte er nach seiner Befreiung in einem Kinderheim im polnischen Krakau.

In Wahrheit wurde Bruno Dössekker in der Schweiz als Bruno Grosjean geboren, und zwar als uneheliches Kind einer Fabrikarbeiterin und einem Unbekannten. Im Alter von zwei Jahren verlor er seine Mutter: Sie wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und besuchte ihn später, als er längst Verdingkind geworden war und von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht wurde, nur höchst selten. Der kleine Bruno wurde misshandelt und fand kein Zuhause, bis die wohlhabenden Dössekkers aus Zürich ihn schliesslich adoptierten.
Warum denkt sich jemand mit einer so furchtbaren Geschichte eine noch schlimmere Biografie aus? Rolando Colla und sein Team rekonstruieren den Fall Wilkomirski mit grosser Genauigkeit und zeichnen akribisch die Recherchen von Daniel Ganzfried und dem Historiker Stefan Mächler nach. Wenn Dössekkers gigantischer Bluff und die detektivische Arbeit, die zu seiner Aufdeckung geführt hat, im Film manchmal selbst wie die unglaubliche Geschichte aus einem Roman anmuten, dann lässt Colla jeweils Beteiligte zu Wort kommen. Sie versichern: Das hat sich wirklich so zugetragen, und die Beweislage gegen Dössekker ist erdrückend.

Colla trifft etwa die Geigerin Wanda Wilkomirska, von der Dössekker sich sein Pseudonym geliehen hat. Sie führt aus, dass sie zwar einer alten polnischen Familie entstamme, aber bestimmt keiner jüdischen. Colla interviewt den Kurator des jüdischen Museums in Riga, von dem Dössekker sich erhofft hatte, dass er seine Geschichte bestätige. Doch der Kurator winkte von Anfang an ab: Eine öffentliche Bibliothek in einem Ghetto mit 30 000 Häftlingen, von denen 26 000 innert nur zwei Tagen erschossen wurden? «Totaler Unsinn», was dieser Mann erlebt und gesehen haben will.
Rolando Colla brauchte für diesen Film viel Geduld. Schliesslich ist es das erste Mal, dass Dössekker nach seiner Entlarvung in der Öffentlichkeit spricht. Auch wenn er in seinem Film klarmacht, dass Dössekker die Welt belogen hat, stempelt Colla ihn nie ab und berichtet über ihn nie von oben herab. Im Gegenteil nimmt der Film seinen Protagonisten jederzeit ernst – natürlich ohne deshalb auf ihn hereinzufallen. Im Fokus steht denn auch mehr als die blosse Schuldfrage. Ob die Story erfunden war und ob der Lügner sich schuldig bekennen würde, spielt im Film nur eine untergeordnete Rolle. Das Psychogramm dieses gespaltenen Menschen interessiert Colla mehr als seine blossen Taten. So erzählt uns W. Was von der Lüge bleibt die Tragödie eines Mannes, der sich eine Identität ausdachte, da er bei seiner Geburt keine bekommen hatte. Die Geschichte eines Mannes auch, der seine Traumata irgendwie zu verarbeiten versuchte und dabei unter nicht unwesentlichen Einfluss eines dubiosen Psychotherapeuten geriet.

W. Was von der Lüge bleibt ist spektakulärer Stoff. Der Film kommt zum Glück aber weitgehend ohne dramatische Rhetorik und unnötige Spannungsbögen aus. Das ist seine grosse Stärke: dass er seine Geschichte für sich sprechen lässt. Die bietet Spannung und Verwirrung genug, die Zurückhaltung des Filmemachers lässt ihr genügend Raum, sich in ihrer ganzen Komplexität auszubreiten. Wie tief wir durch dieses intime Porträt in Bruno Dössekkers Abgründe blicken können, ist natürlich fast ein bisschen unheimlich. Aber eben auch ziemlich faszinierend.
Regie, Buch, Schnitt: Rolando Colla; Kamera: Maciej Tomków, Gabriel Lobos u.a.; Illustrationen: Thomas Ott; Musik: Bernd Schurer. Mit: Bruno Dössekker Wilkomirski, Daniel Ganzfried, Eva Koralnik u.a. Produktion: Peacock Film, Josef Burri, SRF; CH 2020. Verleih CH: Filmcoopi.
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