The Nest

Sean Durkin
Ein Zuhause, das keines ist. Das ist der Grundkonflikt von Sean Durkins Familiendrama. Auch in seiner zweiten Spielfilmregiearbeit beweist der Kanadier ein gutes Auge für Mood und Figurenzeichnung.
Die Musik, ein langsam wegzoomender Kamerablick durch die Scheibe; die Parameter suggerieren schon zu Beginn, dass in Sean Durkins The Nest etwas ausser Balance geraten ist. Durkin war vor Jahren mit seinem Indiethriller Martha Marcy May Marlene (2011) dem Sundance-Publikum aufgefallen; jetzt legt der kanadische Regisseur nach, mit diesem erst zweiten Spielfilm (dazwischen hat er Serien gedreht), einem melancholischen Familiendrama.
Es sind die Achtziger, in einem wunderschönen Haus wohnt Rory (Jude Law) mit seiner Familie, die zwei Kinder albern wohl am Tisch, aber dazwischen gibt es immer wieder Leerpausen, verdächtig viel Ruhe und Distanz. Routine auch, Langeweile, die man bei den vielen lange gehaltenen Close-ups in den Gesichtern in Ruhe studieren kann. Dann möchte Rory zurück nach London, wo er herkommt, um sich weiterzuentwickeln, und, wie er meint, um «real money» zu machen. Doch seine amerikanische Frau Allison (Carrie Coon) ist alles andere als begeistert, denn das schöne Haus, das ruhige Leben in Amerika scheint ihr Traum gewesen zu sein. Der Grundkonflikt ist nach den wenigen Filmminuten in The Nest also gelegt: Der Vater möchte dieses schöne Nest, das sie gebaut haben, verlassen – um ihr ein neues zu bauen. Sie möchte bleiben.

Dann muss sich Allison von ihrer eigenen Mutter vorwerfen lassen, «kompliziert» zu sein, von ihr wird erwartet, dass sie ihren Job, ihre Hobbys aufgibt. Es sind die Achtzigerjahre: Ihr Mann und die Schwiegermutter finden, sie solle gar nicht arbeiten. Sie sehen sich die wunderbaren Villen an – noch schöner als ihr jetziges Anwesen –, die sie in England beziehen könnten, doch Allison mag sich mit der Idee nicht richtig anfreunden. Wessen Traum lebt sie hier? Immerhin: Die Kinder scheinen begeistert vom englischen Landhaus. Und der erbarmungslos ambitionierte und scheinbar machthungrige Rory geniesst die Gesellschaft gewichtiger Businessmänner beim Lunch: eine Ermächtigung.
Gemächlich tastet sich The Nest an den Ehekonflikt heran, die Hauptdarsteller_innen tragen durch den Film. Besonders Coon in ihrer Rolle als unterforderte, allzu selbstständige Frau besticht. Wie ein Fremdkörper watet sie durch das viel zu grosse und nur spärlich möblierte Haus, bei den Dinnerpartys sticht sie heraus. Schnell hätte ihre Rolle der gelangweilten Hausfrau zum Stereotyp werden können; doch dieser Verlockung widersteht auch das Drehbuch. Coon spielt die Frau mit Nuance, ihr Unwohlsein demonstriert sie mit Nachdruck.

The Nest schafft es so, nicht in die Falle zu tappen und auch das Duell «dominanter Mann – dominante Frau im historischen Setting» nicht allzu standardisiert durchzuspielen. Stattdessen macht er deutlich, wie bemühend eine kontinenteübergreifende Liebe sein kann, wie anstrengend das Länder-Hopping. Der Film ist nicht interessiert an den ganz grossen Konflikten. Sondern am Subtilen: Man ist im Haus, aber eben nicht zu Hause.
Auch Jude Law geht auf in der Rolle des ambitionierten Geschäftsmanns; getrieben, mit Geltungsdrang, talentiert. Auch seine Welt bröckelt, wenn er zu Hause nicht geschätzt wird. Er will jemand anders sein, als er eigentlich ist. Im Glasbüro sitzt er einmal für einen kurzen Moment zusammengesunken im Stuhl; ein Deal ist geplatzt, man sieht sein wahres Ich, bevor er sich eine Sekunde später wieder aufrichtet, mit einem neuen Blitzeinfall, der ihm schnelles Geld bringen soll. Das ist gelungenes Drama in kleinen Gesten.
Ab dem 17. Dezember in Deutschschweizer Kinos.
Regie, Buch: Sean Durkin; Kamera: Mátyás Erdély; Schnitt: Matthew Hannam; Musik: Richard Reed Parry; Darsteller_in (Rolle): Jude Law (Rory O’Hara), Carrie Coon (Allison O’Hara), Oona Roche (Samantha O’Hara), Charlie Shotwell (Ben O’Hara); Produktion: Element Pictures, BBC Films, Elevation Pictures, FilmNation Entertainment; GB, CA 2020. 107 Min. Verleih CH: Ascot Elite.
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