Il traditore

Marco Bellocchio
Die Familie ist alles. Zumindest bis der Staatsanwalt an die Türe klopft. Il traditore zeichnet eindrücklich die Mafiaprozesse der italienischen Neunzigerjahre nach.
Zum Höhepunkt der Feier ein Gruppenfoto: Die beiden sizilianischen Grossfamilien, die das organisierte Verbrechen Italiens und vor allem den lukrativen Handel mit harten Drogen unter sich aufgeteilt haben, sollen auf einem Bild vereint werden. Nach einigem Hin und Her sind alle an ihrem Platz, das Blitzlicht der Kamera leuchtet grell auf, die Bewegungen gefrieren – und plötzlich verwandeln sich Menschen in Gespenster, Gesichter in Totenmasken.
All die gestandenen Männer und harten Jungs, die sich gerade noch überschwänglich zugeprostet und fröhlich Tänze aufgeführt hatten, auch die sorgfältig frisierten Frauen der Clans, die sich nicht darum scheren, woher das Geld kommt, das sie ein Leben in Glamour und Wohlstand führen lässt: Alle sind im Moment der Aufnahme nicht mehr Mitglieder einer gut geölten kriminellen Gemeinschaft, sondern nur noch groteske, lächerliche Gestalten, zurückgeworfen auf sich selbst und in die eigene Hilflosigkeit.
Diese Szene zu Beginn von Marco Bellocchios Il traditore nimmt nicht nur den weiteren bitteren Verlauf des Films vorweg, sie ist auch eine Art medien-theoretisches Mission Statement, Bellocchios Kommentar zur Macht des Kinos: das Licht als Waffe, die blendet, die die Zeit für einen kurzen Moment gefrieren und dabei etwas sichtbar werden lässt; die Kamera als Maschine, die die Wirklichkeit verformt, wobei eben in dieser Verformung etwas Wirkliches, vorher Verborgenes ans Licht kommt; der Film als Medium nicht der Verlebendigung, sondern der Mumifizierung am lebendigen Leib.

Aber noch leben wir, noch feiern wir, noch laufen die Geschäfte. Tommaso Buscetta allerdings, seit Jahrzehnten im Umfeld der mächtigsten Clanchefs aktiv, setzt sich bald darauf – wir befinden uns in den frühen Achtzigerjahren – mit seiner dritten Frau nach Brasilien ab. Er alleine hat die Zeichen der Zeit erkannt: Das Heroin, das der Mafia vorher ungekannten Reichtum beschert hat, wird die Clans eher früher als später zerstören. Ganz direkt, weil die Kinder der Gangster, wie auch Buscettas eigener Sohn, der Droge verfallen. Vor allem aber indirekt, weil die unerhörten Gewinnspannen aus vergleichsweise vorsichtig wirtschaftenden Dons über Nacht paranoide, sich gegenseitig zerfleischende Millionäre werden lassen.
Buscetta jedenfalls will, was in Mafiafilmen grundsätzlich niemandem gegönnt wird: aussteigen. In diesem Fall werden seine Pläne von einem rasch eskalierenden Bandenkrieg in der sizilianischen Heimat durchkreuzt. Filmisch manifestiert sich das als Todesticker: Die Anzahl der Clan-Hinrichtungen wird direkt ins Bild eingeblendet. Bald ist sie dreistellig, 120, 130, 140 Opfer, auch das nächste Umfeld Buscettas ist betroffen, sein Bruder, seine Söhne. Der Tod rückt ihm auf die Pelle. In die Enge getrieben, entschliesst er sich zu einem Schritt, von dem es kein Zurück gibt: Er kooperiert mit dem ehrgeizigen Staatsanwalt Giovanni Falcone, der sich anschickt, die Macht der Clans zu brechen.
Es liegt auf den ersten Blick nahe, Il traditore neben Martin Scorseses The Irishman zu stellen: Auch Bellocchio hat ein Biopic über das Leben und vor allem das Altern eines Berufsverbrechers gedreht. Allzu weit führt der Vergleich der beiden phänomenalen Alterswerke allerdings nicht – vor allem, weil Il traditore mit seinem blau-schwarz-kalten Farbschema, seinem kristallklar-minimalistischen Score und seinem furiosen, dynamischen Erzählgestus keine Sekunde lang unter Nostalgieverdacht steht.
Bellocchios Film ist in jeder Hinsicht näher an der Gegenwart situiert als Scorseses. Die «goldenen Jahre» des Mafioso Buscetta sind nur in kurzen Rückblenden präsent; und auch diese Miniaturen haben stets eine morbide Schlagseite, etwa wenn der wieder einmal inhaftierte Gangster, bevor er mit einer in den Knast geschmuggelten Prostituierten schläft, einem soeben verstorbenen Mitgefangenen ein Leinentuch übers Gesicht zieht.
Im Zentrum steht jedoch die Zeit nach dem Verrat. Insbesondere geht es um die Mafiaprozesse der Achtziger- und Neunzigerjahre. In der filmischen Rekonstruktion werden diese Gerichtsverfahren, die die politische Kultur Italiens tiefgreifend verändert haben, zu grotesken Selbstbildern einer im Innersten gespaltenen Nation.
Während die Richter an hoffnungslos überforderte Lehrer an einer Problemschule erinnern und der Kronzeuge Buscetta durch Panzerglas und Polizeispaliere vor Attentaten geschützt werden muss, sind die Angeklagten hinter Gitterstäben zusammengepfercht. Wie wilde Tiere im Zoo – eine Assoziation, die Bellocchios Montage an einer Stelle explizit werden lässt – finden sie, die vorher im Verborgenen gewirkt haben, sich nun den Blicken der nationalen Öffentlichkeit ausgesetzt. Sie toben und fluchen, im breiten sizilianischen Dialekt, den die italienischen Richter höchstens vage verstehen, sie ziehen sich nackt aus, simulieren epileptische Anfälle. Noch klammern sie sich an die Gemeinschaft, an die alten Machorituale.

Die meisten von ihnen werden dank Buscettas Aussage zu langen Haftstrafen verurteilt. Später befinden wir uns im Kontrollraum eines Gefängnisses. Nebeneinander aufgereiht stehen da Fernsehgeräte, die Überwachungsbilder aus den Zellen zeigen. Die Mafiosi wüten auf diesen Bildschirmen noch immer, aber nun tobt jeder nur noch für sich, schutzlos dem Kontrollblick der Staatsmacht ausgeliefert. Bellocchio filmt alle diese Fernseher auf einmal – und damit hat sich das Orakel der Gruppenfotografie vom Filmbeginn erfüllt. Wieder finden alle Gangster in einem einzigen Bild Platz, und jetzt sind sie tatsächlich und für immer so, wie es im Blitzlicht des Fotografen momenthaft als Ahnung aufgeschienen war: isoliert, hilflos, lächerlich, totgeweiht.
Freilich ergeht es denen, die sie hinter Gitter gebracht haben, nicht unbedingt besser. Il traditore blickt auf die italienische Zeitgeschichte wie auf einen Totentanz, dem sich niemand, der sich einmal im Umkreis der Mafia aufgehalten hat, auf die Dauer entziehen kann. Der Staatsanwalt Falcone fällt 1992 einem (seinerzeit das gesamte politische System Italiens erschütternden) Attentat zum Opfer; Buscetta wiederum überlebt zwar seine Zeugenaussagen, doch das Zeugenschutzprogramm im amerikanischen Exil macht ihn zu einer wandelnden Leiche. Ein Leben nach der Mafia gibt es auch für ihn nicht. Im Gegensatz zu allen anderen tanzt er jedoch einen Totentanz, den er selbst gewählt hat. Das ist nicht wenig.
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