Capital in the Twenty-First Century

Justin Pemberton
Die Verfilmung des Ökonomie-Bestsellers von Thomas Piketty kommt wie ein Videoclip daher. Die Botschaft ist prägnant, doch der Film verliert sich selbst in der Konsumlogik, die er kritisiert.
Mit dem Fall der Berliner Mauer beginnt die Geschichte des Kapitalismus. Aber nicht die feiernde Jugend sehen wir, keine Philharmoniker und keine Graffiti-Kunst. Stattdessen die gehässigen Strassenkämpfe davor. Aufnahmen von Aggression und Gewalt sind der rote Faden durch den Film, den der neuseeländische Regisseur Justin Pemberton aus dem gleichnamigen Bestseller des französischen Ökonomen Thomas Piketty gemacht hat. Denn das ist das Narrativ: Revolution, Aufruhr, Streik, sogar die beiden Weltkriege sind letztlich die Folge der materiellen Ungleichheit zwischen den Menschen. Und mit dem Ende des real existierenden Sozialismus in Osteuropa und dem Triumph des westlichen Kapitalismus wurde diese Ungleichheit nicht etwa nivelliert, sondern verschärft und auf einen Stand gebracht wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Es folgt, im Zehntelsekundentakt, eine brillante Collage der Symptome dieser Ungleichheit: Dollarnoten, Wolkenkratzer, Strandvillen mit Palmenpools, Container-schiffe, Luxusjachten neben Obdachlosen, Minenarbeitern, Müllhalden und Soldatengräbern. Atemberaubend der Moment, als Pemberton im Rhythmus des Popsongs «Royals» seiner Landsfrau Lorde in Öl gemalte Porträts adliger Mamsellen aus dem Rokoko nebeneinander hinblättert, als wären es vier Damen im Poker. Hier ist zu spüren, womit Pemberton sein Handwerk erlernt hat: Musikvideos. Sein wilder Helikopterflug führt vom Spiegelsaal von Versailles durch die Romane von Jane Austen und das Musical «Les Misérables», mit Abstechern auf die Sklavenplantagen der Südstaaten, weiter über die Schlachtfelder und Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts bis zum Aufstieg des Neoliberalismus mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher, den Yuppies und den windigen Verheissungen der Trickle-Down-Economics.

Das alles ist glitzernd und mitreissend, und es braucht wohl diese sprechenden, schreienden Bilder für all diejenigen, die den Wälzer des Ökonomen zwar gekauft, aber vor den vielen Tabellen und Grafiken kapituliert haben. Pikettys Clou war, dass er eine Nische zwischen Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft entdeckte und durch die Auswertung unzähliger Daten aus Erb- und Steuerstatistiken eine griffige These erarbeitete: Die eklatante Ungleichheit, die Europa und die USA um 1900 prägte, nahm im Laufe des 20. Jahrhunderts, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, sukzessive ab, seit den Achtziger- und Neunzigerjahren aber wieder zu. Das Hauptproblem besteht dem Pariser Professor zufolge darin, dass die Kapitalrendite das Wachstum der Realwirtschaft übersteigt und dass heute nur 15 Prozent des Bankengeldes in die Produktion fliessen, während 85 Prozent in der schieren Spekulation zirkulieren. Die Botschaft ist plausibel und es leuchtet auch ein, dass sie sich trotz einer Gesamtauflage von 2,5 Millionen Exemplaren ein Vehikel sucht, das noch mehr Menschen anspricht. Der Erfolg von Davis Guggenheims An Inconvenient Truth (2006) mit Al Gore mag als Inspiration gedient haben.

Dennoch enttäuscht es, dass sich Pembertons Film mit purer Illustration begnügt. Die Wahrheiten sind gemacht und werden verkündet von Hauptsprecher Piketty, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, und einer ganzen Armada von weiteren Expert_innen aus Ökonomie (Joseph Stiglitz), Geschichte, Politologie (Francis Fukuyama), Psychologie und Journalismus. Keine Spur von Debatte, von spannenden Widersprüchen und offenen Fragen, die es doch auch geben wird. Gäbe es, wenn der Reichtum gleicher verteilt würde, nicht noch mehr Konsum und damit noch weniger Nachhaltigkeit? Braucht es Kriege, um die Gleichheit wieder herzustellen, oder sollten wir Georges Bataille lesen, um zu lernen, wie wir die Kriege durch Feste ersetzen können?

Fast könnte man meinen, der Film imitiere in seiner Machart die industrielle Logik des Kapitalismus. Er verbraucht die vielen klugen talking heads wie ein Fabrikmanager seine billigen Arbeitskräfte. Und auch auf der Bildebene gäbe es so viele Trouvaillen, bei denen man verweilen möchte: Sequenzen aus dem Musical Gold Diggers of 1933 (1933), eine Fernsehshow mit der jungen Thatcher, die Kindern erzählt, irgendwann werde es eine britische Premierministerin geben, aber sie werde das nicht mehr erleben. Da würde man gerne innehalten und einen Link anklicken, um von der konsumistischen Oberfläche wegzukommen, in die Tiefe, ins Verstehen.
Der Film ist auf Amazon Prime Video und als DVD bei Studiocanal verfügbar.
Regie: Justin Pemberton; Vorlage: Thomas Piketty; Adaption: Matthew Metcalfe, Justin Pemberton, Thomas Piketty; Kamera: Jacob Bryant, Darryl Ward; Mit: Gillian Tett, Ian Bremmer, Francis Fukuyama, Kate Williams, Joseph Stiglitz; Produktion: Upside Corp. u. a.; F, NZ 2019; Dauer: 103 Min; Streaming CH/D: Amazon Prime Video.
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