DAU

Ilya Khrzhanovsky
Höchste Filmkunst oder niederer Menschenversuch? Kontroverser als DAU war Kino lange nicht: Was aber ist herausgekommen bei dem Megaprojekt, an dem der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky fünfzehn Jahre gearbeitet hat? Einiges Material ist nun streambar.
Wo man’s gerade von Coronaregeln für Filmdrehs hat: Darüber etwa, ob Schauspieler_innen erstmal in Quarantäne müssen, bevor sie einander küssen können, hätte man sich bei Ilya Khrzhanovsky keinen Kopf machen müssen. Denn beim russischen Regisseur und seinem übergewaltigen DAU-Projekt steckten sowieso alle in Massenquarantäne.
In Charkiw, nordöstliche Ukraine, hatte Khrzhanovsky auf dem Gebäudekomplex eines einstigen sowjetischen Schwimmbads das vielleicht weltgrösste Filmset aufbauen lassen: eine von der Aussenwelt abgeriegelte, 12 000 Quadratmeter grosse Rekonstruktion eines sowjetischen Forschungsinstituts. Darin liess Khrzhanovsky dutzende, wenn nicht hunderte Darsteller_innen, überwiegend Laien, in einer Art totalitären «Truman-Show» leben. Das Dasein in einem Willkürregime aus der Sowjetzeit sollte simuliert werden. Wieso? Weil das Leben seiner Eltern die Hölle gewesen sei in der Sowjetunion, erklärte sich Khrzhanovsky in einem seltenen Interview im «Spiegel». «Aber ich bin auch überzeugt, dass diese totalitäre sowjetische Mentalität bis heute existiert. (...) Ich will den Menschen mit meiner Arbeit bewusst machen, dass der Stalinismus in der menschlichen Zellstruktur weiterlebt.»
Im stalinistischen Realityformat also hatte alles und jeder wirklichkeitsgetreu zu sein. Die Toiletten-rohre seien Sonderanfertigungen, erzählte Khrzhanovsky etwa einem Journalisten, der das Set besuchte. Das richtige Spülgeräusch sei entscheidend. Auch bei der Rollenbesetzung ordnete er alles dem Realitätsgedanken unter. Wissenschaftler_innen wurden gecastet, um Wissenschaftler_innen zu spielen, Geistliche geben Geistliche. Der chassidische Rabbi und Philosoph Adin Steinsaltz, zum Beispiel, hat einen Auftritt, ebenso der peruanische Schamane Guillermo Arévalo. Den obersten Folterknecht verkörpert ein früherer KGB-Agent, und der bekannte russische Neonazi Maxim Martsinkevich war sich nicht zu blöd, eine besonders unappetitliche Rolle als dumpfer Handlanger zu übernehmen.

Ursprünglich, vor fünfzehn Jahren, hatte Khrzhanovsky vorgehabt, ein spielfilmlanges Biopic über den sowjetischen Kernphysiker und Nobelpreis-träger Lew Landau (1908–1968), genannt Dau, zu drehen. Schriftsteller Wladimir Sorokin, kein Geringerer, hatte das Drehbuch geschrieben, die Finanzierung stand, der Kultursender Arte war mit an Bord. Nach zwei Jahren Vorbereitung legte man 2008 los, sieben Wochen Drehzeit waren veranschlagt. Doch Khrzhanovskys Drang nach Authentizität nahm überhand, er steigerte sich hinein in einen wahren Realitätsrausch. Oder wie es Kameramann Jürgen Jürges im «Tagesspiegel» ausdrückte: «Ilya wollte das alles etwas weiter fassen.»
Vom Drehbuch, in dem das Moskauer Forschungsinstitut schlappe zehn Seiten eingenommen hatte, blieb kaum mehr etwas übrig. Khrzhanovsky gab nur noch die Stossrichtung vor, der Rest war Improvisation, war, wenn man so will, echtes Leben. Drei Jahre zog sich der Dreh dahin, ein russischer Kleinoligarch mit Kunstsinn finanzierte den Spass, während Cast und Crew mitunter Monate, wenn nicht Jahre im «Institut» verbrachten. Innerhalb dessen Mauern herrschten strenge Regeln, nichts durfte die Sowjetillusion stören. Handys oder Computer waren selbstredend verboten, aber nur schon eine «falsche», nicht zeitgemässe Wortwahl wurde mit einer Geldbusse geahndet. Alle, auch die Crewmitglieder, hatten immerzu im Kostüm zu sein, das Rollenspiel kannte keine Pause. Noch in den Schlafzimmern konnten die Kameras den Protagonisten zu Leibe rücken, kurz und gut, man durfte Skandalöses erwarten.
Gedreht wurde auf 35 Millimeter, am Ende war der Streifen über eine Million Meter lang. Von 700 Stunden Filmmaterial ist die Rede, aus dem nach und nach über ein Dutzend Filme und TV-Serien geschnitten werden sollen. Auch Performances und Installationen aus dem DAU-Universum würden dokumentiert, darüber hinaus habe man mehr als 4000 Stunden Gesprächsaufnahmen transkribiert, so Khrzhanovsky. Er verspricht ein Buchprojekt, bestehend aus 247 Bänden. Nun denn.
Manchmal übernimmt sich der Mann. Pläne, das Gesamtkunstwerk standesgemäss als Megaevent in Berlin zu lancieren, zerschlugen sich 2018. Khrzhanovsky hatte vorgehabt, Unter den Linden eine Mauer zu bauen. Er wollte ein Areal in Berlin-Mitte mit einem Sperrwall einzäunen und nur durch Visa zugänglich machen. Auf dem Areal hätte es dann Filmvorführungen und Auftritte von Kunststars wie Marina Abramović oder Carsten Höller gegeben, die in DAU auch mitgespielt haben. Das Spektakel scheiterte am Bauamt. Khrzhanovsky versuchte es daraufhin in London, blitzte aber ebenfalls ab bei den Behörden. Am Ende kam es zu einer Rumpfpremiere in zwei Museen in Paris, bevor zwei DAU-Filme Anfang Jahr an der Berlinale Premiere hatten, einer im Wettbewerb, einer in der Nebensektion «Berlinale Special».

Nicht ohne Störgeräusche, klar: In Russland sieht sich der Künstler der Propagierung von Pornografie angeklagt. Es sind auch Missbrauchsvorwürfe gegen Khrzhanovsky laut geworden. Manche sehen einen Sektenführer am Werk, ein Darsteller warf ihm vor, ihn mit Alkohol zum Sex vor der Kamera verleitet zu haben. Fragt sich aber auch, ob es nicht die Versuchsanordnung war, die Unerwartetes hervorbrachte.
Für gewisse Leute jedenfalls ist Khrzhanovsky ein Genie. Tom Tykwer (Lola rennt) war bei der Paris-Premiere dabei und äusserte in einem Interview: «Ich bin wirklich selten in meinem Leben von etwas so begeistert gewesen.» Kann man seine Begeisterung nachvollziehen? Was taugt DAU denn nun? Auf der Berlinale blieb der Begeisterungssturm der Kritiker_innen aus. DAU. Natasha, der Wettbewerbsbeitrag, war ihnen zu viel. Darin schildern Khrzhanovsky und Co-Regisseurin Jekaterina Oertel die Episode einer Kantinen-mitarbeiterin des Forschungsinstituts, die nach einer Nacht mit einem ausländischen Wissenschaftler brutal verhört und sexuell erniedrigt wird. Ob das nicht schundige Folterpornografie sei, fragte man sich. Eine eigentliche Filmkritik fiel auch deshalb schwer, weil der Film als einzelnes, aus dem Gesamtkontext gelöstes Werk seltsam schwerelos blieb. Und für den sechsstündigen DAU. Degeneratsia in der Nebenreihe hatte man dann nicht mehr die Musse.
Nun ist DAU. Degeneratsia, wie einige weitere Filme, als Stream erhältlich. Auf der offiziellen Website dau.movie sind die Werke erstaunlich unkompliziert (ohne Visa oder was auch immer), für drei Euro das Stück, zu haben. Und mit jeder Veröffentlichung findet man sich besser zurecht in dem DAU-Kosmos, erkennt das Ausstattungswunder, durch das der Rainer-Werner-Fassbinder-geschulte Kameramann Jürges ohne jede Effekthascherei führt, während sich ein komplexes, erschreckend hellsichtiges Psychogramm einer Gesellschaft im Totalitarismus auftut.

Als sanfter Einstieg, frei von Sex- oder Gewaltexzessen, empfiehlt sich vielleicht das Drei-Figuren-Stück DAU. Nora Mother: Dau (Teodor Currentzis) ist ein junger Starwissenschaftler, es sind die frühen Fünfziger-jahre, er lässt es sich gut gehen im Institut. «Was für ein Leben», sagt er: «Der Kaviar ist schwarz, der Wein ist alt, der Käse ist schimmelig.» Nur für seine Frau, Nora (Radmila Schegoleva, eine der wenigen professionellen Schauspielerinnen), scheint Dau keine grossen Gefühle aufbringen zu können. Dann kommt Noras Mutter (Lydia Shchegoleva, die echte Mutter von Radmila) zu Besuch, die ihrem Schwiegersohn, dem verschnarchten Wissenschaftler mit der fliehenden Stirn und den steilen Haaren, nichts abgewinnen kann. «Er kann sich nicht mal die Haare kämmen.» Als sie Nora nahelegt, sich von Dau zu trennen, knallt es zwischen Mutter und Tochter. «Du hast so oft gesagt, dass du mich nicht liebst», ruft die Mutter aus: «Ich bin zu Stein geworden. Ich habe geweint, so viel ich nur konnte.» – «Mama», antwortet die Tochter, «du spielst!» – «Ich spiele immer, das ist meine Natur, es ist einfacher. (...)Mein ganzes Leben spiele ich schon. Das Leben ist eine Bühne, wusstest du das nicht? Und die Menschen sind Schauspieler, wusstest du das auch nicht?»
Auch das ist DAU: wunderbar meta-mässig! An das dialoggewaltige Kammerspiel knüpft dann perfekt die ergreifend-tragische Liebesgeschichte DAU. Katya Tanya an: In dieser «Folge» verliebt sich Dau in die junge Bibliothekarin Katya (Ekaterina Uspina), er will eine Dreiecksbeziehung mit ihr und Nora. Aber dann überrascht er Katya im Bett mit dem Leiter der Generalabteilung Trifonov (Alexey Trifonov).
Diesem Trifonov begegnen wir – wie auch dem Folterknecht aus DAU. Natasha – in DAU. Degeneratsia wieder. Es ist 1968, fünfzehn Jahre nach Natasha, Nora Mother und Katya Tanya. Der Folterer, KGB-General Azhippo (Vladimir Azhippo), macht sich daran, im Institut aufzuräumen. Nach dem Prager Frühling sieht er die Sitten verlottern. Kokette Studentinnen und Studenten mit Beatles-Frisuren feiern zu westlicher Popmusik, in der Kantine säuft man sich um den Verstand, und der zum Institutsleiter aufgestiegene Trifonov belästigt und nötigt seine Sekretärinnen. Azhippo sorgt dafür, dass Trifonov entfernt wird, und nimmt seinen Posten ein. Dau dämmert derweil in seinen Gemächern dahin, vermutlich von einem Schlaganfall gezeichnet.

Die Wissenschaft aber muss liefern: Experimente zur Erschaffung eines «neuen Menschen» sind im Gange, erst mit Affen und Babys als Versuchskaninchen, dann mit Mitgliedern der Komsomol, der Jugendorganisation der KPdSU. Azhippo setzt die jungen Kraftmeier (darunter der eingangs erwähnte Neonazi Martsinkevich) auch als Sittenpatrouille ein. Bald überziehen die faschistoiden Schläger das Areal mit Terror. In einer grauenhaften Szene bringen sie ein Schwein in das Haus der Wissenschaftler_innen und schlachten es auf dem Wohnzimmerteppich. Ob er auf den Skandal aus sei, wurde Khrzhanovskjy in einem Interview von der «Süddeutschen Zeitung» gefragt: «Sie können in jedem Restaurant einen Schweinebraten bestellen», antwortete er: «Ist der Skandal, dass man das Töten zeigt oder dass es im Wohnzimmer stattfindet? Die Neonazis zeigen den kultivierten, liberalen Wissenschaftlern, wie einfach es ist, ein Lebewesen zu töten.»
DAU. Degeneratsia zeigt das Institut, das auch in Wirklichkeit bis 1968 existiert hat, in der Endphase. Khrzhanovskiy und der hier als Co-Regisseur geführte Cutter Ilya Permyakov «dokumentieren» in dem sechsstündigen Finale das Umsichschlagen eines sich bedrängt fühlenden Gewaltregimes. Das Institut fällt, der Terror aber lebt ausserhalb der Mauern fort. Am Schluss steht, wie Khrzhanovskiy sagt, «die Apokalypse, der Tod, der Sieg des Faschismus». In seiner abgründigen Konsequenz ist DAU beispiellos.
Teile des Projekts sind auf dau.movie verfügbar.
Regie: Ilya Khrzhanovsky; Kamera: Jürgen Jürges; Darsteller_in (Rolle): Teodor Currentzis (Dau), Radmila Schegoleva (Nora), Lydia Shchegoleva (Lydia Vassilievna); Produktion: Phenomen Berlin, Deutschland, Ukraine 2020.
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