Berlin Alexanderplatz

Burhan Qurbani
Mit der Neuverfilmung von Döblins Jahrhundertroman stellt sich Burhan Qurbani Regisseur in eine Tradition mit grossen Fussstapfen. Sein Berlin Alexanderplatz hat den Mut, die abgründige Geschichte von Berlin als Moloch in der Gegenwart neu zu lesen.
Der Mann mit der roten Mütze heisst Reinhold. Er hat sich auf eine Kiste gestellt. Klein von Statur überragt er die Umstehenden selbst von hier oben höchstens um ein paar Zentimeter. Ausserdem steht er gebückt da, den rechten Arm seltsam angewinkelt in die Hüfte gedrückt. Alles andere als eine geborene Autoritätsperson – und dennoch einer, der alle Blicke auf sich zieht. Wenn er dann zu sprechen anfängt, wird schnell klar, dass Reinhold erst recht kein geborener Redner ist – und dennoch schlägt er mit seiner leisen, verschleppten, melodiösen Stimme die Zuhörer bereits nach ein paar Worten in seinen Bann.

Für die jungen Männer, die um die Kiste herumstehen, ist Reinhold Deutschland. Ein krummes, schiefes und vermutlich auch gefährliches Deutschland, aber doch immerhin ein Deutschland. Das einzige, das ihnen zur Verfügung steht. Die Männer befinden sich in der Peripherie von Berlin, in einem Auffanglager für Flüchtlinge ohne Papiere. Eine schummrig beleuchtete Massenunterkunft, ein Haufen trister Betonklötze, drumherum Wald. (Schwarz-)Arbeit gibt es höchstens auf einer infernalisch anmutenden Baustelle. «Niemand hat ein Leben wie dieses hier verdient», sagt Reinhold, und dann macht er ihnen sein Angebot.

Wenn ein Roman als unverfilmbar bezeichnet wird, dann ist das ungefähr so, wie wenn ein Berg unbezwingbar genannt wird: weniger ein endgültiges Verdikt als eine Herausforderung an die Extrembergsteiger des Kinos. So hat denn von James Joyces «Ulysses» über Marcel Prousts «À la recherche du temps perdu» bis zu Thomas Pynchons «Gravity’s Rainbow» noch fast jeder vermeintlich filmisch nicht umsetzbare literarische Koloss früher oder später den Sprung auf die Leinwand geschafft. Im Fall von «Berlin Alexanderplatz», Alfred Döblins Moloch von einem Grossstadtroman, ging es besonders schnell. Bereits zwei Jahre nach der Druckausgabe (1929) kam die erste Filmversion in die Kinos, inszeniert von Phil Jutzi, Döblin selbst arbeitete am Drehbuch mit. Der 1931er Berlin Alexanderplatz, ein Versuch, kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten noch einmal an die Tradition des Weimarer Arbeiterkinos anzuschliessen, ist heute freilich kaum mehr als eine Fussnote der Filmgeschichte.

Ganz anders steht es um die zweite Bewegtbildversion. Rainer Werner Fassbinders insgesamt gut 15-stündige Adaption aus dem Jahr 1980 entstand zwar fürs Deutsche Fernsehen, zielt aber ebenfalls aufs Kino, wie bereits der Untertitel verrät: «Ein Film in 13 Teilen und einem Epilog». Fassbinders 2007 aufwändig restaurierter Berlin Alexanderplatz ist nicht nur die bis heute und vermutlich auch bis auf Weiteres originalgetreueste Döblin-Verfilmung, sondern darüber hinaus ein Glücksfall fürs Genre der Literaturverfilmung überhaupt. Fassbinder verfilmt nicht einfach nur die Handlung der Vorlage, den Leidensweg des ehemaligen Lohnarbeiters Franz Biberkopf, der nach einem Gefängnisaufenthalt in die kriminelle Unterwelt abrutscht, sondern die Prosa selbst: Auf verschiedenen Ebenen – in den Dialogen, als Voice-Over, über Texteinblendungen – dringt der Originaltext in den Film ein, wird Teil eines dichten, intermedialen Gewebes. Döblins eigentümlicher, hochgradig hybrider Schreibfluss findet eine kongeniale filmische Entsprechung.

Wer heute noch einmal auf «Berlin Alexanderplatz» zurückkommt, muss sich also nicht nur Döblin, sondern auch Fassbinder stellen. RWF überbieten zu wollen wäre vermessen, ihn einfach zu ignorieren ist allerdings auch keine Option. Regisseur Burhan Qurbani, der bereits mit seinen soziopolitisch wie kinematografisch ambitionierten ersten beiden Langfilmen Shahada und Wir sind jung. Wir sind stark. bewiesen hatte, dass er keine Risiken scheut, macht bereits im Vorspann deutlich, dass er sich dem Erbe, das sein neues Werk antritt, bewusst ist: Mit «Ein Film in 5 Teilen» ist die aktuelle Neuverfilmung überschrieben. Fünf statt 13 – der aktuelle Berlin Alexanderplatz ist wieder auf ein mit dem Alltagsbetrieb des Kinos kompatibles Mass geschrumpft. Allerdings nur gerade so: Auch Qurbanis Film hat etwas Monströses, Überlebensgrosses an sich.

Die Differenz zu Fassbinder (und zu Döblin) ist freilich deutlich markiert: durch die Verschiebung der Handlung ins Berlin von heute. Qurbanis Franz Biberkopf heisst Francis, und wenn er zu Filmbeginn in Berlin anlangt, dann kommt er nicht aus dem Knast, sondern aus Guinea-Bissau. Er hat die lebensgefährliche Bootspassage übers Mittelmeer hinter sich gebracht und hofft auf ein neues, besseres Leben. Erst einmal landet er jedoch in einem Flüchtlingsheim, wo er, siehe oben, die Bekanntschaft von Reinhold macht.
Auch Francis möchte Deutschland werden. Er muss dafür allerdings ganz unten anfangen: Als Koch für Drogendealer und als Hausboy für Reinhold, der ihn als seinen Ersatzkörper einsetzt, wenn er ihm seine Freundinnen zuschanzt, junge Frauen, vor denen er sich stets schon Minuten nach dem Sex ekelt. Francis bewährt sich allerdings schnell in seinem Job in der Gang und zieht die Aufmerksamkeit des Oberbosses Pumm auf sich. Nachdem ein Überfall auf einen Juwelierladen um ein Haar tödlich endet, findet er Unterschlupf bei der Edelprostituierten Mieze. Doch bald nimmt er wieder Kontakt auf zu den Jungs um Pumm und Reinhold.

Mit anderen Worten: In erster Linie ist der neue Berlin Alexanderplatz ein Gangsterfilm, situiert im migrantisch geprägten Berlin der Jetztzeit. Aus der Perspektive von Francis, eines von Anfang an ausgegrenzten Neuankömmlings, erscheint das gegenwärtige Berlin tatsächlich wieder als das Moloch, als das Döblin es seinerzeit beschrieben hatte. Das Berlin von Reinhold und Francis ist ein Berlin der Nacht, ein Berlin der Stripclubs, Absturzkneipen und Bordelle, ein Berlin des Neonlichts, das wieder und wieder Francis’ Gesichtszüge illuminiert. Der Drogenumschlagplatz im Volkspark Hasenheide wiederum, in dem die beiden ihre Tage verbringen, ist ein Stück Wildwest mitten in der Stadt. Das andere, bürgerliche Berlin ragt nur einmal in den Film hinein, in einer kurzen Szene, in der Francis die gutbürgerliche Wohnung eines Freiers stürmt, der Mieze vergewaltigt hatte. Ansonsten hat die sogenannte Mehrheitsgesellschaft schlichtweg keine Repräsentanz im Film.
Keineswegs allerdings hat Qurbani ein Sozialdrama gedreht. Sein Berlin ist kein realistisch entworfenes Milieu, sondern eine fantasmatische Gegenwelt, eine Stadt, die durchlässig ist für Projektionen und Traumbilder, eine Stadt, in der es Euroscheine regnet, in der selbst das knochenharte Strassenpflaster verführerisch schimmert, in der erotisches und ökonomisches Begehren zunehmend ununterscheidbar werden. Ein permanenter Wachtraum, dynamisiert von einer geschmeidigen Kamera, die selten lange auf einer einzelnen Perspektive insistiert, während Dascha Dauenhauers elektronisch geprägter Score eine permanente Unruhe in die Bilder einträgt. Qurbani möchte weniger Döblins Prosa evozieren, als den Sog, den sie idealerweise produziert. Wie in einem end- und uferlosen Roman sollen wir in diesem Berlin der Nacht versinken.
Gleichzeitig allerdings gibt es im Film eine euphorische, beinahe utopische Unterströmung, die in den Vorlagen nicht enthalten ist. Wo insbesondere Fassbinder seinen Franz Biberkopf am Ende buchstäblich in die Hölle stösst, erzählt Qurbani fast schon eine – freilich vielfach gebrochene – migrantische Aufstiegsgeschichte. Zwar hat auch Qurbanis Francis/Franz an seiner Vergangenheit zu leiden, das Trauma, das er mit sich herumschleppt, ist allerdings längst nicht so zentral wie in der Vorlage. Überhaupt ist die Hauptfigur weitaus weniger abgründig angelegt. Es gibt da eine Verschiebung: die düsteren, nihilistischen Energien von Döblin und Fassbinder sind durchaus noch vorhanden, sie sind aber nicht länger einigermassen gleichmässig über das gesamte Personal verteilt, sondern vereinen sich in einer einzigen Figur: in Reinhold, dessen Präsenz in der aktuellen Version deutlich aufgewertet wurde.
Im neuen Berlin Alexanderplatz ist der Gangster mit der leisen, schmeichelnden Stimme fast eine zweite Hauptfigur. Das hat auch mit einer brillanten Schauspielleistung zu tun: Wenn es mit rechten Dingen zugeht, sollten seinem Darsteller Albrecht Schuch nach dieser Rolle alle Türen offenstehen. Schuch bringt immer neue Facetten an Reinhold zum Vorschein: mal ist er ein unverschämter Verführer, der sich die Menschen mit dem Charme des Underdogs gefügig macht fast wie früher Groucho Marx, mal ein knallhartes, misogynes Arschloch, mal einfach nur ein trauriger, einsamer Tropf, um Anerkennung winselnd wie ein geprügelter Hund. Vor allem aber ist er der Mephistopheles zu Francis' Faust. Reinhold schmiegt sich an Francis' Schulter, geht ihm an die Gurgel, küsst ihn auf den Mund. Reinhold ist, wie es bei Döblin heisst, etwas «das von aussen kommt, das unberechenbar ist und das wie ein Schicksal aussieht.» Er ist die Versuchung, die Francis einfach nicht los wird. Solange dieser Mann Deutschland ist, das muss er irgendwann erkennen, solange kann ich es nicht sein.
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