Hexenkinder

Edwin Beeler
Vor Zeiten erdrosselt und verbrannt, landeten sie noch vor wenigen Jahrzehnten in Anstalten und wurden im Namen Gottes des Barmherzigen gezüchtigt: Kinder mit dem Makel, nicht der Norm zu genügen. Aber was ist die Norm?
Sie sind zum Beispiel unterernährt, und die Mutter hat Herrenbesuche. Trotzig. Unehelich geboren. Spross eines Selbstmörders. Waise. Mit sieben «sittlich verwahrlost» et cetera.
Kinder, solcherart von Geburt an stigmatisiert, werden an Ort verwahrt oder von Heim zu Heim durch die halbe Schweiz weitergereicht, als Nachkommen jener angeblich vom Teufel besessenen «Hexenkinder», von denen grausige Akten aus dem 17. Jahrhundert berichten. Nicht mehr stranguliert und dem Feuer übergeben wie jene, aber in Institutionen mit hohen Mauern und einem unheimlichen Estrich unter dem ausladenden Walmdach in gnadenlos christlicher Obhut. «Gott hilft» oder «Mariahilf» heissen solche Stiftungen respektive Etablissements. Da wird den Kindern mit Methoden wie Wasserstrahl (um nicht zu sagen Waterboarding), mit Ruten, mit Kälte, mit Wasserentzug oder Zwangsernährung auf den rechten Weg geholfen. In Edwin Beelers neuem Film befinden wir uns mitten im 20. Jahrhundert.

Zwei Frauen und drei Männer, nicht mehr jung, aber noch gar nicht etwa «alt», erzählen von ihrer Kindheit beherzt in die Kamera, und man spürt, was es emotional kostet. Manchmal stockt die Stimme und der Blick geht nach innen, dahin, wo allein sie noch schmerzlich Zugang haben und wir ihr Martyrium bloss erahnen. Verstummen droht. Im Reden aber, im Mitteilen kann auch Heilung liegen. Darüber und wie das Erwachsenenleben sich dann doch gelebt hat. Vielleicht nicht versöhnt, aber allenfalls versöhnlich, lässt der Film uns auch teilhaben. Ein Zeugnis berührt besonders: des «Ehemaligen», der sich an Weihnachten im Kloster Einsiedeln als Gast ein Zimmer gönnt und vom damaligen Abt Georg Holzherr zu einem Glas Wein – und zu einer Segnung und Entschuldigung seitens der Kirche – empfangen wird.

Hexenkinder reiht sich ein in die Flut von wichtigen Missbrauchszeugnissen aus der Sicht der Opfer. Beeler, Innerschweizer Kulturpreisträger 2017, versteht sich als anwaltschaftlicher Filmer. Am Herzen liegen ihm seine Frauen und Männer, als Historiker interessieren ihn auch die Institutionen und deren pervertierte Ideologien im Namen des Herrn. Im Vordergrund steht das subjektive Erleben und die in Archivakten getippte Biografie (so diese nicht gelöscht worden ist), insoweit, als sie Menschen zerstört hat. Denn Zöglingsakten, so stellt ein Historiker im Film klar, geben mehr Auskunft über das Denken der Behörden als über die Kinder selbst, nicht nur im 17. Jahrhundert.
Diese Kinder durchlaufen ihre Heimkarriere als «Aktenzöglinge», und das Stigma wird perpetuiert. Ist beispielsweise – ein winziges Detail nur – ein siebenjähriges Mädchen erst einmal gestempelt als «sittlich verdorben», darf dann auch seine «schöne Schrift gar nicht zu dir passen». Im Nachhinein freilich ist die Aktenbiografie für die Betroffenen als Beglaubigung ihres Schicksals enorm wichtig.
In diesem Spannungsfeld wird Hexenkinder dicht. Und zu spüren ist, wie Beeler behutsam das Vertrauen seiner Gewährsleute gefunden hat. Mehr und mehr gönnt er ihnen innerhalb der kaleidoskopisch dokumentierenden und erzählenden Struktur des Films auch Raum, lässt ihre Gefühle sich artikulieren, lässt sie ihre Worte finden und beredt schweigen. Und in einem Fall lässt er zwei im damaligen Leiden vereinte in einer schrecklichen Erinnerung vor der Kamera beklemmend zusammenfinden. Da begegnen uns zwei Menschen und eben keine Fallbeispiele. Es sind Menschen, die sich ihrer Identität, überhaupt einer Identität, zu lange nie sicher sein durften, und es rührt ans Herz, wie noch heute ein alter Mann mit Lächeln auf ein altes Foto deutet und sagt: «Der da auf dem Bild, der bin ich!» Fast, als müsse er es uns und sich nochmals vergewissern.

Schade nur, dass Beeler, der für Buch, Regie, und Produktion zeichnet, visuell und musikalisch seiner Einfühlung etwas erlegen ist. In einem Füllhorn erlesen schöner filmischer Tableaux wird, auch auf Kosten eines rhythmischen Flusses, oft weniger evoziert als emotional illustriert (oder gar dupliziert) – in atmosphärischen Bildern von Natur, von Wolken und Wasser und Schnee und Bergen, Vögeln und Rössern, suggestiv untermalt von einem Musikscore, der ans Aufdringliche grenzt – und doch das Gegenteil bezweckt.
Regie, Kamera: Edwin Beeler; Schnitt: Mirjam Krakenberger; Ton: Olivier JeanRichard; Sounddesign: Oswald Schwander; Musik: Oswald Schwander; Produktion: Calypso Film AG, Edwin Beeler, Schweiz 2020. 96 Minuten. Verleih CH: Calypso Film AG.
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