Notre-Dame du Nil

Atiq Rahimi
In einer postkolonialen Modellanlage, einer Klosterschule im jungen Staat Ruanda, bahnen sich ethnische die ethnischen Unruhen an, die auf die Gräuel verweisen, die das Land im Bürgerkrieg der Neunzigerjahre durchlebte.
Unter dem dunklen Lack der Marienstatue kommt, als die Mädchen sie säubern, weisse Substanz zum Vorschein. Dünn nur ist die Farbschicht, die die «Notre-Dame du Nil» denen, die sie anbeten, ähnlich machen soll. Das Christentum ist mit Weissen Missionar_innen nach Ruanda gekommen, und es hat sich nur notdürftig an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Vielleicht stehe das Weiss der Maria ja tatsächlich besser, meint eines der Mädchen. Die Spuren der europäischen Kolonialherrschaft sind im Jahr 1973, in dem der Film spielt, noch allgegenwärtig, erst recht in der von belgischen Nonnen geleiteten Internatsschule, die die Mädchen besuchen.

Frequentiert wird das Internat von den Töchtern der Elite der gerade einmal zehn Jahre jungen Nation Ruanda. Im Schlafsaal erzählen sich die Mädchen von ihren Verlobten in Paris, oder sie reichen schicke Mitbringsel aus Europa herum. Im Unterricht lernen sie viel über die Glaubenskriege im Frankreich der frühen Neuzeit, aber fast nichts über ihre eigene Heimat. «Europa ist Geschichte, Afrika ist Geografie», antwortet eine Lehrerin einer Schülerin, als die sie nach den Gründen fragt. Atiq Rahimis Notre-Dame du Nil formuliert einen Einspruch gegen diese Rollenverteilung.
Was auch heisst: Nicht alle innerafrikanischen Konflikte lassen sich auf das Erbe des Kolonialismus und damit doch wieder auf europäische Geschichte reduzieren. In Notre-Dame du Nil sind Weisse lediglich Nebenfiguren, hilflose bis lächerliche Gestalten, deren naive Ideen über Afrika am Ende an der blutigen historischen Realität zerschellen.
Eine rein afrikanische Erzählung ist Notre-Dame du Nil allerdings auch wieder nicht. Die Vorlage stammt von Scholastique Mukasonga, die im gleichnamigen Roman ihre eigene Lebensgeschichte verarbeitet: Anfang der Siebzigerjahre besuchte sie ein Internat im ländlichen Ruanda und musste schliesslich als Angehörige der verfolgten Tutsi-Minderheit nach Burundi fliehen. Inzwischen lebt sie in Frankreich, genau wie der Regisseur des Films, der aus Afghanistan stammende Atiq Rahimi.

Die Perspektive des Films ist eine gebrochene. Ausgangspunkt ist die persönliche Erinnerung Mukasongas: Die Gemeinschaft der Mädchen im Schlafsaal, Herzlichkeit und Eifersüchteleien, neugierige Expeditionen in die Umgebung. Warme Jazzklänge auf der Tonspur und gelegentliche Zeitlupenaufnahmen markieren nostalgische Sehnsucht, aber auch den Abstand, der uns von ihrem Objekt trennt. Rahimi wiederum bringt aus seinen vorherigen Filmen ein Interesse mit an der Erfahrung von Frauen, die sich mit einem System der Gewalt konfrontiert sehen. Gleichzeitig wendet er sich erstmals einer Weltregion zu, zu der er kaum persönlichen Bezug hat. Es gibt, anders ausgedrückt, eine Spannung zwischen emotionaler Nähe und historisch-geografischer Ferne. Unter anderem führt das dazu, dass der Schauplatz, das Internat, sonderbar isoliert anmutet, wie eine Oase der Erinnerung inmitten einer Wüste des Vergessens.

Wie schnell sich die Dinge ändern können, zeigt zunächst das Schicksal von Frida: Als sie vom Urlaub zurückkommt, teilt eines der Mädchen ihren Freundinnen freudig erregt mit, dass sie schwanger ist. Auf die allseitigen Glückwünsche folgt, Schlag auf Schlag, eine Intervention der Schule, eine Zwangsabtreibung und der Tod. Die entscheidende Wendung nimmt ihren Ausgangspunkt wieder bei der Marienstatue, der zentralen Metapher des Films. Eines der Mädchen ist mit dem Design unzufrieden. Damit sie uns wirklich gleicht, sagt sie, benötige Maria eine majority nose, anstelle der minority nose, die sie bisher im Gesicht trage. Majority, das sind die Hutu, Minority die Tutsi. Ob die beiden Volksgruppen sich tatsächlich anhand ihrer Nasen, oder auch nur irgendwelcher äusseren Merkmale unterscheiden lassen, ist mindestens zweifelhaft, aber ohnehin völlig nebensächlich, sobald die Dynamik des ethnischen Hasses einmal in Gang gesetzt ist. Im letzten Drittel kippt der Film – ein Spoiler ist in diesem Fall unausweichlich – denn die entschleunigte Mädchenwelt verwandelt sich in eine Hölle auf Erden. Die vorher notdürftig befriedeten Spannungen zwischen Hutu- und Tutsi-Schülerinnen brechen auf, und es kommt zu einem Pogrom, das auch auf den Völkermord verweist, der Ruanda in den Neunzigerjahren verwüstete.
Regie, Buch: Atiq Rahimi; Vorlage: Scholastique Mukasonga; Schnitt: Hervé de Luze, Jacqueline Mariani; Kamera: Thierry Arbogast; Ton: Dana Farzaneh Pour, Mathieu Cox; Produktion: Les Films du Tambour; Ruanda 2019. 93 Min. Verleih CH: trigon-film.
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