I'm Thinking of Ending Things

Charlie Kaufman
Der Verwirrungskünstler Kaufman entführt das Netflix-Publikum in die psychedelischen Tiefen einer beklemmenden Paarbeziehung. Mit seinem neusten Regiestreich I’m Thinking of Ending Things hat er einen der besten Filme des Jahres geschaffen.
Der Wischer quietscht unentwegt über die verschneite Scheibe, als würde er nach Hilfe schreien, während Jake mit seiner Freundin zu seinen Eltern fährt. Hin und wieder rauscht da draussen etwas vorbei, eine Leuchtreklame für eine Eisdiele, eine Kinderschaukel, dann wieder minuten- und meilenlange Leere, die man im gequetschten 4:3-Format-Blick ins Auto nur erahnt. Man friert fast durch den Bildschirm hindurch – die grauen Bilder und das verhaltene Gespräch der beiden lassen kaum Gutes erahnen.
«Ich mag Roadtrips, weil sie einem zeigen, dass die Welt da draussen grösser ist als der eigene Kopf», sagt Jesse Plemons, der Jake spielt. Doch wir befinden uns in einem Film von Charlie Kaufman, Drehbuchautor von Being John Malkovich, Adaptation und Eternal Sunshine of the Spotless Mind, Regisseur von Synecdoche, New York; und wer nur einen dieser Filme gesehen hat, weiss, dass er diesen Satz Lügen strafen wird. Denn wenn etwas grösser ist, als die Welt da draussen, dann sind das die verworrenen Geschichten aus Kaufmans Kopf.
Im Zentrum des Films steht Jakes Freundin Lucy (Lucia, Veronica oder doch Mae?), gespielt von Jessie Buckley. Sie wird den Gedanken nicht los, Jake verlassen zu wollen. Eigentlich ist das schon beschlossene Sache, dennoch fährt sie mit ihm einem Schneesturm entgegen auf den Bauernhof seiner Eltern irgendwo im mittleren Westen der USA. Ihre Gedanken verfolgen sie und die Zuschauer_innen aus dem Off, unterbrochen von Jakes Versuchen, ein Gespräch anzureissen. Aber letztere blühen nur noch im intellektuellen Schlagabtausch zwischen den beiden auf, der ihre eigentliche Entfremdung verdeutlicht.

Endlich auf dem Hof angekommen, verliert die Geschichte dann die lineare Sicherheit, die die Hinfahrt gerade noch so gewährleistete. Erst taucht der Familienhund auf, der sich endlos schüttelt und gleich wieder im Nichts verschwindet, als sei er nur eine Erinnerung. Als sich dann endlich auch die Eltern blicken lassen, fängt das Kammerspiel an, durch Zeiten und Versionen zu springen, die nur noch einer Traumlogik zu folgen scheint.
Jakes Mutter (Toni Collette) ginge es nicht gut, warnte Jake auf der Hinfahrt noch, doch erst einmal gibt sie hysterisch-aufgeweckt mit ihrem hemdsärmligen Mann (Davie Thewlis) das gastfreundliche Elternpaar. Ein Festmahl wird aus dem Nichts aufgetischt und gänzlich unverzehrt wieder abgeräumt, bald sitzt Lucy alleine in der altbackenen Stube vor der psychedelischen Blumentapete und als sie die anderen sucht, begegnet ihr Jakes Vater um Jahrzehnte gealtert und mit seiner Demenz so verwirrt wie sie selbst. Als wäre das nicht komplex genug, mischen sich, wie aus einer anderen Welt, die Bilder eines alten Schulhausabwarts hinein, von dessen Realität sich stets Fetzen in die widersprüchliche Traumlandschaft der beiden Hauptfiguren mischen.

Dabei war die Ausgangslage doch so einfach gewesen, denn eigentlich basiert der Film auf dem gleichnamigen Thriller des Kanadiers Iain Reid. Doch es scheint so, als habe Kaufman vom ursprünglichen Plot gerade mal die ersten paar Seiten, die melancholisch-düstere Stimmung und die Vorahnung, dass auf diesem Ausflug etwas Schlimmes passieren könnte, mitgenommen.
Dafür interessiert er sich vielmehr für das Innenleben seiner Protagonistin. Mit seiner Hauptfigur erforscht Kaufman erstmals Weiblichkeit und vor allem weibliche Verletzlichkeit angesichts einer latent drohenden Männlichkeit. «Es ist schwer, Nein zu sagen. Ich habe das nie gelernt», sagt sie an einem Punkt der Verzweiflung zu sich selbst. Sie sitzt in einem Gefängnis einer Beziehung, die sich aus einer Reihe von «Ja» ergeben hat und windet sich. Die Rolle der Bedrängten, die sich schweren Mutes emanzipieren will, spielt Buckley mit einer verspielten Leichtigkeit, die mitten ins Herz geht. Und bei Plemons, der langsam vom Einfühlsam-Introvertierten ins Manisch-Cholerische kippt, fühlt man sich selbst in seiner naiven Zutraulichkeit ertappt.
Kaufman wäre nicht Kaufman, wenn er uns dem simplen Suspense eines Thrillers überlassen würde. Stattdessen springt I’m Thinking of Ending Things noch in den letzten Minuten ein-zwei Parallelwelten weiter, wie zu einer neuen Strophe eines expressionistischen Gedichts. Netflix, das dem Regisseur nach dem finanziellen Debakel seines Debuts vor mehr als zehn Jahren und dem mässigen Erfolg von Anomalisa diesen Film ermöglichte, wird mit dieser Produktion wohl einen Teil seines Stammpublikums verstören. Dafür kann es sich rühmen, einen der besten Filme des Jahres mitverantwortet zu haben.
Ab 4. September auf Netflix verfügbar.
Regie, Buch: Charlie Kaufman; Vorlage: Iain Reid; Musik: Jay Wadley; Kamera: Lukasz Zal; Schnitt: Robert Frazen; Darsteller_in (Rolle): Jessie Buckley (junge Frau), Jesse Plemons (Jake), Toni Collette (Mutter), David Thewlis (Vater); Produktion: Likely Story, Projective Testing Service; USA 2020. 134 Min. Streaming CH/D: Netflix.
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