Nomadland

Chloé Zhao
Was bleibt einem Menschen, wenn seine Heimatstadt geschlossen wird und das Geld nicht zur Frühpensionierung reicht? Regisseurin Chloé Zhao erzählt in Nomadland eindrücklich und unaufgeregt vom Stolz und von der Verletzlichkeit der Opfer der Finanzkrise im Land der begrenzten Möglichkeiten.
Direkt vor Ferns altem Haus in Empire, Nevada, fängt die Wüste an. Im Haus wohnt sie längst nicht mehr, wie niemand mehr in dem Ort wohnt, der nur wegen einer Gipsplattenfirma existiert. Existierte, um genau zu sein, denn mit der Schliessung der Fabrik 2011 schloss auch Empire, und der Ort verwandelte sich in eine Geisterstadt.
Auch Fern wurde längst nach da draussen verweht, in die Wüste, lebt in ihrem Bus, zieht ihre Kreise von Campingplatz zu Campingplatz. Einmal im Jahr malocht sie eine Weile bei Amazon, zwischendurch brät sie irgendwo Burger, putzt Klos oder schaufelt Zuckerrüben in der Gegend rum. Sie macht alles, um knapp eigenständig bleiben zu können, um irgendwie über die Runden zu kommen. «Homeless» ist sie nicht, wie sie betont, ihr Van ist ihr Zuhause. Als der aber nicht mehr anspringt, muss sie dann doch ihre sesshafte Schwester um Geld anpumpen, um wenigstens die Reparatur zahlen zu können, bis sie in der nächsten Saison wieder bei Amazon anheuern kann.
Die Nomadin ist frei und doch ganz in ihren Umständen gefangen. Da nützt es auch nichts, dass ihre Schwester ihren Lebensstil mit den amerikanischen Pionier*innen vergleicht. Denn romantisch ist dieser Film nicht. Nomadland ist erfrischend unaufgeregtes Arbeiter*innenkino, wie man es in den USA selten sieht. Ken Loach und seine Milieustudien kommen in den Sinn, auch wenn Chloé Zhaos Film ganz ohne das Pathos auskommt, das man vom britischen Kollegen kennt.

Eine Milieustudie liegt aber auch Nomadland zugrunde, ganz konkret das gleichnamige Sachbuch von Jessica Bruder aus dem Jahr 2017, das sich des Schicksals ausgestossener älterer Arbeit*innen annimmt, denen nur noch das Herumziehen bleibt. Dieser Realismus ist der harte Boden, auf dem der Film spielt. Und Zhao geht genauso einfühlsam wie Loach, wenn nicht gar ein Stück einfühlsamer, mit ihren Figuren um. Fern ist zwar ein Opfer der Krise, wie all die Menschen, die sie down the road antrifft und von denen sie eine Weile begleitet wird, aber da sind Schönheit und Würde in diesen Geschöpfen. Da ist Solidarität, da ist Mitgefühl unter den Nomad*innen, die sich auch hin und wieder in Selbsthilfegruppen zusammenfinden, in denen es unter anderem darum geht, welchen Plastikeimer man mit welchem Mobilitätsgrad am besten als Toilette benutzt.
Es sind geschundene, alte Seelen, zweifellos, die mit den Folgen der Finanzkrise von 2008 leben müssen, aber sie haben ihren Stolz, auch wenn sie von Aushilfsjobs leben müssen, statt sich frühpensionieren lassen zu können. Die leere Weite der Wüste legt sich über die Kollateralgeschädigten des Turbokapitalismus wie ein heilender Verband.
Diese Nomad*innen machen keinen jugendlichen Roadtrip und reisen auch nicht mit ihren Pensionsgeldern durch die Gegend. Einmal setzen sich Fern und ihre Freundinnen an einer Messe in ein Luxuswohnmobil, das den Babyboomerinnen eigentlich gut anstehen wurde. Ein Dinosaurier sei das, kommentiert eine. Später im Film lässt sich Fern noch vor einem riesigen, lebensecht grossen Dino in einem Freizeitpark ablichten, und es wird überdeutlich: Die wahren Dinosaurier sind die alten Working Poor, die diesen Film bevölkern – reif fürs Aussterben.

Zhao inszeniert das alles ohne übergeordnete Erklärung und moralisiert zum Glück nicht. Die ruhigen Szenen, die minimalistischen Dialoge sprechen für sich und von nichts Anderem als den Menschen, die sie ausmachen. Bild für Bild wird das Publikum in ihre Welt eingeführt, die Kamera von Joshua James Richards ist der empathische Blick in ihr intimes Zuhause, das nur ein paar Kubikmeter eines Campers ausmacht – ein auf ein Minimum komprimiertes Leben.
Fabelhaft verkörpert diese Tragik Frances McDormand als Fern. Stellt sich die Frage: Ist das schon ein type cast, wenn jemand einfach wahnsinnig gut aussieht vor der Kulisse des Wilden Westens? McDormand passte mit ihrem rauen Kopf schon 1986 bestens in die garstige Landschaft und Erzählung von Fargo, und in Three Billboards Outside Ebbing, Missouri lehrte sie 2017 die lokalen Behörden eines Hillbilly-Kaffs das Fürchten. In Nomadland schält sich ihre verletzliche Spielart aber auf einer ganz anderen, gänzlich ironiefreien Ebene heraus.
Fern liebt die Freiheit der Strasse, denn das heisst, dass sie weit weg von allem ist. Von ihrem Schwager zum Beispiel, den sie dafür kritisiert, dass er Leuten Hypotheken aufschwatzt, die diese sich nicht leisten können. Oder weg von Dave (David Strathairn), der ebenfalls jobbend durch die Lande tingelt und ein Freund, schliesslich aber bei seinem Sohn und Enkel wieder sesshaft wird und Fern am liebsten gleich im Gästehaus einquartieren möchte. Aber Fern kann nichts mehr mit dieser geputzten Welt anfangen, denn tief drin ist sie immer noch im Fluchtmodus nach der schmerzhaften Erinnerung an den Tod ihres Mannes und dem Verlust von allem, was ihr corporate america nehmen konnte – nicht zuletzt ihre Heimat, ihr Zuhause. Schön sei es in Empire gewesen, inklusive öffentliches Bad und Golfplatz, erzählt sie einer Freundin einmal. All das ist längst Geschichte.
Es gibt kein Zuhause mehr, und auch keinen richtigen Job mehr für eine wie sie. Den amerikanischen Traum packt sie nur noch am Fliessband in Kartonboxen, die nicht ihre Adresse tragen. Welche Adresse auch, schliesslich hat ihre alte Geisterstadt nicht einmal mehr eine Postleitzahl.
START 08.04.2021 REGIE, BUCH, SCHNITT Chloé Zhao VORLAGE Jessica Bruder KAMERA Joshua James Richards MUSIK Ludovico Einaudi DARSTELLER*IN (ROLLE) Frances McDormand (Fern), David Strathairn (Dave), Swankie (Swankie), Bob Wells (Bob) PRODUKTION Cor Cordium Productions, Hear / Say Films, Highwayman Films, USA 2020 DAUER 107 Min. VERLEIH Disney STREAMING Disney+
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