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Aquí no ha pasado nada

Vicente, ein junger Mann aus der chilenischen Upper Class, verbringt seine Tage am Meer und betrinkt sich am Abend mit Freunden. Bei einer nächtlichen Spritztour unter Alkoholeinfluss passiert ein Unglück. Vicente wird verantwortlich gemacht und versucht, seine Unschuld zu beweisen. Er muss jedoch schnell feststellen, dass in seinen Gesellschaftskreisen, Freunde leicht zu Feinden werden können. 

Text: Florian Kasperski / 27. Juli 2016

«Wahrheit ist das, was man beweisen kann», wird Vicente von seinem Onkel und Anwalt aufgeklärt, weil der junge Mann für den Tod eines armen Fami-lienvaters verantwortlich gemacht wird, obwohl er seine Unschuld beteuert. So ist es keine Überraschung, wenn Vicente später bei der Gerichtsverhandlung eine andere Story erzählt als jene, die wir zuvor gesehen haben. Bevor es aber dazu kommt, ist Vicente ein junger Mann aus der chilenischen Upperclass, der seine Tage damit verbringt, im Meer zu schwimmen und sich abends mit Freunden zu betrinken. Während einer dieser Partys beschliesst man, eine Spritztour mit dem Auto zu machen. Am nächsten Morgen wird Vicente aus dem Bett geklingelt und erfährt erst dann, dass während des nächtlichen Abenteuers jemand überfahren wurde. Schon bald wird Vicente in einen Sumpf aus Lügen und Vertuschung hineingezogen.

Wahrheit ist ein zentrales Thema des Films. Gerade deshalb, weil wir als Zuschauer nicht genau wissen, was die Wahrheit ist. Der Moment des Unfalls wird nur vage gezeigt. Da wir zusammen mit dem ex-trem betrunkenen Vicente im Auto sitzen und das Bild leicht unscharf ist, erfahren wir nicht genau, was vor sich geht. Die Kamera bleibt bei ihm, wodurch wir nur minimal mehr wissen als Vicente und sich so seine Verwirrung auf uns überträgt.

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Aquí no ha pasado nada bildet den zweiten Teil einer Trilogie über Gerechtigkeit des chilenischen Regisseurs Alejandro Fernández Almendras. In To Kill a Man ging es um Gerechtigkeit im Milieu der Arbeiterklasse. Im aktuellen Film beleuchtet er die Welt der Reichen, und der dritte Teil wird Gerechtigkeit im Umfeld von Unternehmen thematisieren. Gerechtigkeit, so Almendras, sei leider kein Gut, auf das alle in gleichem Mass Anspruch hätten. Dass es ihm ernst ist, über seine Filme diese Tatsache zu ändern, zeigt sich in der Finanzierung des Projekts: Mit nur 27 000 Dollar wurde es komplett über Crowdfunding und einer hundertprozentigen Beteiligung der Crew realisiert. Das niedrige Budget sieht man dem Film jedoch nicht an. Im Gegenteil, Almendras geht mit seinen bescheidenen Mitteln sehr kreativ um. Beispielsweise werden sämtliche SMS-Texte, die sich die Figuren senden, eingeblendet – eine ökonomische Methode, um die Allgegenwart der sozialen Medien zu visualisieren. Ausserdem erfährt man so auf simple, jedoch elegante Weise einiges über die Figuren und deren Beziehungen.

Almendras zentriert den narrativen Fokus auf Vicente. Andere Figuren werden in der Folge nur oberflächlich behandelt. Anfangs mag dies wie ein Mangel wirken, jedoch kommt auch diese Limitierung dem Film zugute, da sie offenbart, wie oberflächlich Vicentes Welt ist. Nachdem er und seine Gelegenheitsfreundin einige Male miteinander geschlafen haben, sagt sie, es werde langsam langweilig. Das Gleiche habe sie, wie sie ihm einmal erzählte, mit ihrem Exfreund gemacht und nicht verstanden, warum dieser wütend wurde. Ein anderes Beispiel für die armselige Zwischenmenschlichkeit ist der Umstand, dass die in den Unfall Involvierten in Absprache Vicente als den Übeltäter darstellen und vor Gericht lügen. Es scheint, als wären alle nur so lange befreundet, wie man sich gemeinsam betrinken kann. Sobald etwas passiert, das dem eigenen Status schaden könnte, kämpft jeder für sich allein.

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Almendras möchte mit seinem Film auf die Ungerechtigkeit im chilenischen Rechtssystem aufmerksam machen. Dafür wählt er ein wahres Ereignis, den Fall Martín Larraín, Sohn eines Senators, der in eine Geschichte verwickelt ist, die der filmischen Erzählung ähnelt. Mit scharfem Blick zeigt Almendras auf, dass der Wohlstand gewissen Menschen ermöglicht, die Wahrheit nach ihrem Belieben zu modellieren. Die Szene der Anhörung macht das deutlich. Einer nach dem andern trägt seine Version des Abends vor. Dabei wird schnell klar, dass das Gesagte komplett erfunden ist. Zusätzlich werden frühere Falschaussagen der Angeklagten eingeblendet, die das Gesagte umso grotesker erscheinen lassen. «Wenn du genug Geld hast, ist die Wahrheit flexibel», scheint diese Sequenz auszusagen. Almendras zeichnet das bedenkliche Bild einer verwöhnten und verantwortungslosen (chilenischen) Generation und kritisiert gleichzeitig ein System, in dem Geld die wichtigste Währung ist.

Etwas für Verwirrung sorgt der englische Titel Much Ado About Nothing. Der Film weist kaum Parallelen zum gleichnamigen Stück von Shakespeare auf, und man fragt sich, warum dieser Titel gewählt wurde. Im Original bedeutet Aquí no ha pasado nada so viel wie «hier ist nichts passiert», was die Vertuschung der Wahrheit besser einfängt als der englische Titel, dessen Konnotationen falsche Erwartungen wecken.

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Trotz niedrigem Budget und den daraus resultierenden Einschränkungen ist es Almendras gelungen, ein eindrucksvolles Bild zu malen. Eines, das zum Nachdenken anregt über eine von Social Media und Status regierte Welt. Sinnbildlich für den ganzen Film ist die letzte Einstellung. Alle sind wieder vereint im Garten einer Villa. Wessen Villa, spielt dabei gar keine Rolle, da sowieso alle eine besitzen. Für Verpflegung wurde von den Bediensteten gesorgt, und es herrscht eine friedliche Stimmung. Grund für Auseinandersetzungen gibt es nicht, der Vorfall ist bereits vergessen. Schliesslich leert sich der Garten, und die jungen Reichen brechen zu ihrem nächsten Streich auf. Einzig eine Putzfrau bleibt in einem Chaos aus leeren Bechern, Tellern und Flaschen zurück und löscht den Grill, das Feuer, das die Jugendlichen verursacht haben.

Florian Kasperski studiert Anglistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Er hat im Sommer 2016 ein Praktikum bei Filmbulletin absolviert.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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