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You Were Never Really Here

Ein abgerissener Detektiv auf der Suche nach einer verschwundenen Senatorentochter gerät unweigerlich selbst ins Schussfeld politischer Interessen. Ein mit viel Stilwillen inszeniertes Vexierspiel, zwischen den Zeiten schlingernd und voller gewollter Lücken.

Text: Till Brockmann / 23. Apr. 2018

Im letztjährigen Wettbewerb von Cannes erntete der Film von Lynne Ramsay über sieben Minuten stehenden Beifall. Da das Werk sozusagen in letzter Minute beim Festival ankam (der Premierenkopie fehlte sogar noch der Abspann), rätselten einige Kritiker_innen, ob sich an der teilweise undurchsichtigen, in vielem offenen und assoziativen Geschichte bei der späteren Kinoversion vielleicht noch etwas ändern würde. So weit uns bekannt, war das nicht der Fall. Und der Applaus hält an, nicht zuletzt auch wegen dieser mutigen fragmentarischen Form.

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Angelegt ist You Were Never Really Here wie ein klassischer Thriller und aufgrund des gebrochenen, labilen Helden auch wie ein Film noir. Joaquin Phoenix spielt Joe, einen massigen und stoisch, ja fast schon phlegmatisch daherkommenden Mann, der entführte oder einfach nur untergetauchte Personen aufspürt und zurückführt. Von einem amerikanischen Senator bekommt er den delikaten Auftrag, dessen minderjährige Tochter zu befreien, die von einem Ring von Kinderschändern festgehalten wird. Joe erledigt auch diese Aufgabe mit Bravour und Brutalität und ist bereit, das Mädchen abzuliefern. Doch zum verabredeten Termin erscheint nicht der Senator, sondern ein Killerkommando, welches das Mädchen erneut verschleppt und Joe töten will. In letzter Minute gelingt es ihm, seine Widersacher zu überwältigen. Joe durchschaut auch schnell, dass er in die kriminellen und korrupten Machenschaften eines gewissenlosen Establishments geraten ist. Als er auch noch seine betagte Mutter, um die er sich fürsorglich gekümmert hatte, sowie seine Geschäftspartner ermordet auffindet, beginnt sein Rachefeldzug gegen die ominöse Organisation. Diese Zusammenfassung trifft aber keinesfalls die Lebensader von You Were Never Really Here, der gezielt gegen die Konventionen des Actionthrillers strampelt, obgleich er sich mit Zitaten und klischierten Sinnbildern (zum Beispiel sind die wirklich bösen Menschen immer abscheuliche, geleckte Politiker, die in feudalen Verhältnissen leben) reichlich an dessen Repertoire bedient. Der Erzählrhythmus ist unüblich schleppend, und die eigentlichen Gewaltakte werden mehr oder weniger ausgespart – oft sieht man nur ihr blutiges Resultat.

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Die Psychologisierung von Joe ist das wirkliche Gravitationszentrum des filmischen Ausdrucks. Erzählen durch beobachten: Wir blicken unablässig auf diesen Kleiderschrank von Mann, der mit seinem langen grauen Bart und der schäbigen Kleidung wie ein Penner aussieht, dann aber wieder in teuren Limousinen sitzt und der gefühllos rabiat, doch zugleich zittrig-sensibel wirkt. Aufblitzende Bilder aus verschiedenen Vergangenheitsebenen malen Joes Persönlichkeit zusätzlich aus: Kindheit, eine Zeit bei der Polizei, Soldat im Irakkrieg. Wahrscheinlich. Wer darauf wartet, dass sich diese Bruchstücke gegen Ende des Films zu einem kohärenten Gesamtbild verdichten, wartet vergeblich. Daneben gibt es auch Vorblenden, Fantasiebilder und Halluzinationen. Wahrscheinlich. Nur eines kann man mit medizinischer Bestimmtheit behaupten: Der gute Mensch leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

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Die atmosphärische, in berechnender emotionaler Distanz konzipierte Inszenierung entfaltet ihre Wirkung über weite Strecken, auch unterstützt durch die vom britischen Rockmusiker Jonny Greenwood komponierte Filmmusik. Es kommt auch zu einigen wunderlichen Szenen. So etwa, als Joe mit dem halbtoten Schergen, der kurz zuvor seine Mutter eliminierte, auf dem Küchenboden liegt: Die Männer singen unverhofft im Duett und mit leiser Stimme ein schmalziges Liebeslied mit, das gerade am Radio läuft. Trotzdem bleibt zuweilen ein schaler Eindruck zurück. Die so kunstvoll getrimmte Ästhetik tröstet kaum über die etwas larmoyante und dünne Geschichte hinweg – ausser das Publikum ist bereit, die vielen Aussparungen mit tapferer empathischer Aktivität zu füllen. Keine Frage, dass Joaquin Phoenix seine Figur bravourös auf die Leinwand bringt. Doch ob deren peinigende Vergangenheitsmigräne genug ist, um jedem Charakterzug, jeder Tat, jedem Dialog, jedem Blick und jeder Motivationslage Spannung einzuhauchen, ist fraglich.

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Wie bereits in [art:we-need-talk-about-kevin:We Need to Talk About Kevin] ist Ramsays Filmstil für manchen Geschmack etwas zu glatt und gewollt künstlerisch, und das emotionale Stimmungsbild wird von der auftrumpfenden ästhetischen Eitelkeit manchmal eher erdrückt als unterstützt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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