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A House of Dynamite 1
© 2025 Netflix, Inc.

Der Traum vom intakten Staat: A House of Dynamite

Der nukleare Weltuntergang wird bei Regie-Veteranin Kathryn Bigelow und Autor Noah Oppenheim sowohl zu einem spannenden Thriller als auch zu liberaldemokratischer Fanfiction.

Text: Alan Mattli / 08. Okt. 2025
  • Regie

    Kathryn Bigelow

  • Buch

    Noah Oppenheim

  • Kamera

    Barry Ackroyd

  • Schnitt

    Kirk Baxter

  • Musik

    Volker Bertelmann

  • Mit

    Rebecca Ferguson, Idris Elba, Gabriel Basso, Jared Harris, Tracy Letts, Anthony Ramos, Greta Lee

  • Start

    9. Oktober 2025

Eine Atomrakete rast auf die USA zu. Wenn sie nicht abgefangen werden kann, wird sie in 20 Minuten in Chicago einschlagen und rund zehn Millionen Menschen das Leben kosten. Wer sie abgefeuert hat, lässt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen: Nordkorea hat wahrscheinlich nicht die Kapazität für so einen Nuklearsprengkopf, China und Russland weisen jede Verantwortung von sich.

Das ist die Krise, mit der sich die diversen Zweige von US-Regierung und -Militär in A House of Dynamite konfrontiert sehen. In unvorstellbar knapp bemessener Zeit müssen sich Raketenabwehr, Pentagon, White-House-Kommandozentrale, Katastrophenschutz, Verteidigungsminister (Jared Harris) und Präsident (Idris Elba) unter- und miteinander absprechen und – sofern die Zoom-Verbindung es erlaubt – mehrheitsfähige Entscheidungen über Leben und Tod, Geheimhaltung oder Massenpanik, konziliante Zurückhaltung oder abschreckende Vergeltung treffen.

A House of Dynamite

© 2025 Netflix, Inc./Eros Hoagland

Konstruiert hat diesen Blick hinter die Kulissen eines geopolitischen Horrorszenarios Noah Oppenheim, ein Fernsehproduzent, der neben seinem Ruf als Harvey-Weinstein-Beschützer vor allem für seine Drehbücher über das amerikanische Polittheater bekannt ist: Aus seiner Feder stammt das Jacqueline-Kennedy-Psychodrama Jackie (2016); dieses Jahr feierte die von ihm mitentwickelte Miniserie Zero Day, in der Robert De Niro als Ex-Präsident Cyberterrorist:innen jagt, auf Netflix Premiere.

Dieses Interesse teilt er mit Regisseurin Kathryn Bigelow, die im Laufe ihrer Karriere vom provokativ-schwelgerischen Genrefilm (Near Dark, Point Break, Strange Days) in den minutiös recherchierten journalistischen Thriller zu tagespolitisch relevanten Themen migriert ist. Der Oscargewinner The Hurt Locker (2008) verhandelte das noch frische US-Irakkriegstrauma, Detroit (2017) die historischen Wurzeln von Black Lives Matter; die Osama-bin-Laden-Fahndungschronik Zero Dark Thirty (2012) zeigte sich schwer beeindruckt von der logistischen Herkulesaufgabe des sogenannten «War on Terror».

Diese tendenziell ehrfürchtige Perspektive der beiden – auf die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindende statecraft, auf die unvollkommenen, aber grundsätzlich kompetenten Technokrat:innen, die parteipolitisch unverblendet die amerikanischen Geschicke lenken – prägt auch A House of Dynamite. Vom nach Alaska verfrachteten Major (Anthony Ramos), der zum Wohle der Nation seine Beziehungsprobleme beiseitelegt, über die Situation-Room-Koordinatorin (Rebecca Ferguson), die pragmatisch zwischen Protokollhörigkeit und improvisierten Lösungswegen abwägt, bis hin zum volksnahen, Podcast-affinen Oberbefehlshaber Idris Elba: Sie alle geben angesichts der Möglichkeit eines atomaren Weltuntergangs ihr Bestes, navigieren gekonnt, aber auch glaubwürdig emotional, Ordner, Telefone, Smartphones, Laptops, Videokonferenzen, Satellitenbilder.

A House of Dynamite 2

© 2025 Netflix, Inc./Eros Hoagland

Bigelow inszeniert das mit der ihr eigenen Virtuosität. Rasant wird zwischen den sauber glänzenden Büro-Schauplätzen und den aufgeräumten, elegant gestylten Protagonist:innen hin- und hergeschnitten, die zentrale Problematik effizient aus mehreren Winkeln etabliert, sodass sich das Publikum schon nach wenigen Minuten ohne viele umständliche Erklärungen mitten im Krisenprozedere wähnt. Für die nötige Spannung sorgt zudem die gigantische Fallhöhe der Handlung, illustriert durch den immer wieder prominent ins Bild gesetzten Countdown bis zum Einschlag der Atomrakete.

Allerdings bleiben die ersten 40 Minuten die besten des Films. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Oppenheim den besagten Countdown bis zum Abspann mehrmals auf die Ausgangsposition zurückstellt, um das ganze Drama aus der Sicht eines anderen Teils der Regierungshierarchie zu erzählen: Mit jeder Wiederholung verliert die Affiche an Intensität, auch weil die figurenspezifischen Handlungsstränge zunehmend in überdramatische Klischees abdriften. Wenn Elba in den letzten Minuten fatalistisch über Sinn und Unsinn des amerikanischen Nukleararsenals sinniert, ist die existenzielle Angst des ersten Drittels längst zur pseudophilosophischen Hollywood-Plattitüde geronnen.

Doch irgendwie wirkt das auch wie die logische Konsequenz eines Films, der politisch aus der Zeit gefallen zu sein scheint, der im Zeitalter der Trump’schen Kakistokratie – trotz apokalyptischer Schreckensvision – wie weltfremde liberaldemokratische Fanfiction daherkommt. Entsprechend ist der Vergleich zwischen A House of Dynamite und seinen offensichtlichen inhaltlichen Vorbildern Dr. Strangelove (1964) und Fail Safe (1964) wohl weniger zielführend als jener mit den US-Katastrophenfilmen der Neunzigerjahre: Wie in Independence Day (1996), Deep Impact (1998) oder Armageddon (1998) geht es hier nicht um Realpolitik, sondern um das symbolische Aufbauen und kathartische Durchspielen eines Weltuntergangsszenarios. Doch leider fehlt Oppenheim und Bigelow im letzten Moment dann doch der Mut, diese düstere Fantasie in ein konkretes Bild zu übersetzen.

 

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