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Allein machen sie dich ein: Das Hausbesetzer-Epos

Mit viel Archivmaterial durchquert Brutschin in seiner achtteiligen «filmischen Dokumentation» die Zürcher Häuserbewegung zwischen 1979 und 1994. Der autodidaktische Filmemacher dokumentiert den langjährigen Kampf gegen die Spekulation, gegen Immobilienbesitzer, Politik und Polizei – der oft mit grosser Kreativität vonstatten ging.

Text: Doris Senn / 01. Nov. 2010

Rund fünfzehn Jahre ist es her, da wurden die Zugreisenden bei der Einfahrt in Zürich von einem grossen Ankunftsschild willkommen geheissen, das mit einer kleinen Lautverschiebung spielte: «ZUREICH» hiess es da – und dahinter auf der Brandmauer desselben Gebäudekomplexes: «Alles wird gut». Beides waren die legendären «Aushängeschilder» der Wohlgroth, einer ehemaligen Gaszählerfabrik, die in jenen Jahren besetzt und zum Wohn- und Kulturraum umfunktioniert worden war – als eine der letzten grossen Aktionen der Hausbesetzerszene in Zürich, die rund fünfzehn Jahre lang das Leben in der Stadt mitprägte.

Ihre Geschichte erzählt Mischa Brutschin in seinem rund sieben Stunden dauernden Epos Allein machen sie dich ein. Mit viel Archivmaterial durchquert er in seiner achtteiligen «filmischen Dokumentation» die Häuserbewegung zwischen 1979 und 1994. Der autodidaktische Filmemacher dokumentiert den langjährigen Kampf gegen die Spekulation, gegen Immobilienbesitzer, Politik und Polizei – der oft mit grosser Kreativität vonstatten ging: Die symbolischen Aktionen, mit denen Besetzungen ein- und ausgeläutet wurden, waren häufig witzige Inszenierungen und generierten grosses Medieninteresse, wovon auch der Film für seine Geschichtsschreibung profitiert.

Der Titel der Dokumentation, der auf einen Song der Siebziger der deutschen Band «Schröder Roadshow» zurückgeht, fasst den Geist der Bewegung, die gegen die Vereinzelung und für eine bewohnerfreundliche Stadtpolitik samt alternativem Kulturangebot kämpfte. In einem ersten Teil wird einführend ein Überblick von den Fünfzigern bis zu den Achtzigern gegeben, bis hin zum Opernhauskrawall – dem Beginn der «Bewegung». Die weiteren sieben Teile porträtieren dann die Häuserbewegung im Folgejahrzehnt, die sich parallel dazu abspielte. Mit vielen Fotos, Filmausschnitten, Tondokumenten und den Soundtracks unzähliger Zürcher Bands führt uns ein Voiceover-Kommentar durch ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte, das auch ein Stück Stadtentwicklung ist. Ein Treffen mit dem 45-jährigen Autor fand Ende September statt – just zum 30-Jahr-Jubiläum des alternativen Kulturorts Rote Fabrik, die in den Achtzigern ihre Pforten öffnete.

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FILMBULLETIN Ein paar Worte über deine Person?

MISCHA BRUTSCHIN Ich habe selber in der Häuserbewegung gelebt von Mitte der Achtziger bis zum Ende der Wohlgroth Mitte der Neunziger. Heute arbeite ich Teilzeit und bin Vater von drei Kindern. Das Filmprojekt entstand während achteinhalb Jahren in meiner Freizeit.

FILMBULLETIN Wie kam es zur Idee für den Film?

MISCHA BRUTSCHIN Anfang der neunziger Jahre dokumentierte ich in einem zweieinhalbstündigen Film die Hüttis-Gruppe, zu der ich gehörte und die vier Häuser an der Hüttisstrasse bewohnte – ein Insider-Film und eher schwierig anzuschauen. Ursprünglich wollte ich diesen überarbeiten, das Lebensgefühl in den besetzten Häusern her-
ausarbeiten und alles mit der Geschichte der Häuserbewegung Zürichs verknüpfen. Das war 2001. Dabei stolperte ich über so viel Material und erfuhr so viel in Gesprächen mit Leuten, dass schliesslich diese achtteilige Reihe entstand.

FILMBULLETIN Wie ging die Realisierung vonstatten?

MISCHA BRUTSCHIN Mir war bald klar, dass ich die Zeit nicht im Rückblick zeigen, sondern mit Originalmaterial von damals arbeiten wollte: Die Leute der Szene vertrauten mir und steuerten ihre Dokumente bei. Die Videowerkstatt Kanzlei etwa machte anderthalb Jahre lang Wochenschauen, ebenso Red Fox Underground, das aus der Mediengruppe der Wohlgroth hervorging. Wichtige Quellen waren auch das Schweizer Fernsehen, der Videoladen Zürich und das Sozialarchiv mit seiner Sammlung «Stadt in Bewegung». Essenziell war zudem das Fotoarchiv von Gertrud Vogler: Sie begleitete fast zwei Jahrzehnte lang die «Bewegung», die HausbesetzerInnen und die Drogenszene – in enger Vertrautheit mit den Leuten. Dort, wo filmische Dokumente fehlten, schlossen ihre Bilder sehr viele Lücken. Dann ging es darum, diese Materialien – rund vierzig Stunden – miteinander in Beziehung zu setzen. In einem späteren Moment kamen die Tondokumente dazu: von Radio LoRa, vom Regionaljournal DRS, von vereinzelten Piratenradios sowie die nichtkommerzielle Musik hiesiger Bands.

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FILMBULLETIN Wie wurde der Film produziert?

MISCHA BRUTSCHIN Ich arbeitete neben Job und Familie in meiner Freizeit daran. Als Direktbeteiligter musste ich immer auch mal wieder eine Pause machen, um Distanz zu gewinnen. Ausserdem führte ich Dutzende Gespräche mit AktivistInnen, um meine Sicht etwas “einzumitten”. Und ich machte verschiedene Pre-Screenings in besetzten Häusern – etwa in der Kalkbreite, die jetzt abgerissen ist, oder in den seit fünf Jahren besetzten Fabrikhallen der Binz. Die Rückmeldungen der Leute korrigierten dann Fehler oder gaben Anstösse zu weiteren Recherchen. Die Kosten für diese Arbeit – rund 40 000 Franken – wurden durch Spenden finanziert und durch Benefizkonzerte. Für die rund 80 000 Franken Produktionskosten für die DVD-Box, inklusive Überarbeitung von Ton, Grafik et cetera musste ich mich verschulden.

FILMBULLETIN Wie wurde das Material gegliedert?

MISCHA BRUTSCHIN Der Kameramann Werner Schneider und die Dokumentarfilmregisseurin Marianne Pletscher gaben mir zu Beginn des Projekts Tipps bezüglich Dramaturgie, des Aufbaus von Szenen oder auch des Rhythmus. Anfangs hatte ich vor, thematisch vorzugehen und dabei auch Zeitsprünge zu machen. Das verwarf ich aber bald und entschloss mich zu einem chronologischen Szenario. Wenn man etwa die Geschichte eines Hauses erzählt, gibt es immer vieles, was gleichzeitig abläuft – Nebenaspekte, die drohen, verloren zu gehen. So habe ich versucht, dieses Nebeneinander zu dokumentieren. Andererseits habe ich aus dem, was sich in der Zürcher Drogenszene abspielte – die immer auch Berührungsflächen mit der Bewegung hatte –, einen eigenen grossen Block gemacht, der sich inhaltlich über mehrere Jahre erstreckt. Ebenso mit den Frauenthemen: Als ich auf eine siebenminütige Selbstdarstellung des Frauenhauses in der Wohlgroth stiess, war es klar, dass dies als Ganzes in den Film integriert würde. So entstand schliesslich ein Rohschnitt, der von Mirjam Krakenberger in einem Feinschnitt überarbeitet und gestrafft wurde.

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FILMBULLETIN Was für eine Rolle spielt die Musik?

MISCHA BRUTSCHIN Ich habe vorwiegend Bands aus der Region verwendet, welche die Szene geprägt haben oder heute aktuell sind. Musik war immer ein wichtiger Teil dieser Bewegung: Die Forderung nach einem grossen Konzertsaal für nichtkommerzielle Veranstaltungen stand im Zentrum beim Globuskrawall 1968, dem Opernhauskrawall 1980, aber auch bei der Wohlgroth. Sobald ein Haus einen Keller hatte, wurde er zu einem Übungs- und Konzertraum umfunktioniert. Dass man viele der Gruppen nicht kennt, hat damit zu tun, dass viele sich nicht «verwerten» wollten. Aber auch ein Stephan Eicher begann im Umfeld dieser Szene, Yello mit Dieter Meier, The Bucks oder Vera Kaa.

FILMBULLETIN Gibt es heute noch eine Besetzerszene in Zürich?

MISCHA BRUTSCHIN Es gibt eine, aber sie ist eher ruhig. Mit zehn, fünfzehn besetzten Häusern in der Stadt ist sie sogar eher stärker als früher – aber sie wird kaum wahrgenommen. Seit 1989 ist die Haltung der Stadtregierung: keine Räumung auf Vorrat. Besetzungen sind geduldet – wenn der Räumungstermin kommt, ziehen die Leute weiter. Die BesetzerInnen sind nicht mehr so sehr politisch als vielmehr kulturell aktiv – weshalb man sie gerne in die Ecke der netten, unkonventionellen KünstlerInnen schiebt. Aber was kann die Besetzerszene heute in Bezug auf die Stadtentwicklung auch noch gross verhindern? Die Quartiere in Zürich sind mittlerweile ja allesamt umgebaut …

Die Fragen an Mischa Brutschin stellte Doris Senn

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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