(Im folgenden Beitrag wird sexualisierte Gewalt nacherzählt.)
Nach sechs Stunden holpriger Autofahrt endet endlich diese eigentlich unmögliche Reise. Die Sonne ist gerade untergegangen, als Ana und das Kamerateam aus dem Wagen steigen und vor das karge Haus treten. Die Tür schwingt auf und ein sechsjähriges Mädchen in rosa Tüllkleid, das dunkle Haar voller bunter Haarspangen, springt Ana entgegen. Die drückt das Mädchen unter Tränen an sich. Es ist ihre Tochter Marya, die sie seit vier Jahren zum ersten Mal wiedersieht.
Dass Ana Marya überhaupt wiedergefunden hat, grenzt an ein Wunder. Über Nachbar:innen konnte sie das Kinderheim aufspüren, in welches Marya gebracht wurde, nachdem Ana sie zurücklassen musste. Die lange Reise, die Ana nun endlich zu Marya unternommen hat, musste sie im Geheimen planen. Ihre Eltern wissen nichts davon, denn wenn sie davon wüssten, dürfte Ana nicht wieder nach Hause zurückkehren. Um ihre Identität zu schützen, ist Anas Gesicht den gesamten Film hindurch nie ganz zu sehen. Auf der Autoreise blicken wir über ihre Schulter auf die wüste, schneebehangene Landschaft des Nordiraks, die wie die Menschen hier über das verhängnisvolle Verbrechen schweigt, welches Ana und 7000 anderen jesidischen Frauen widerfahren ist.
2014 überfielen IS-Truppen aus Syrien jesidische Dörfer und Städte im Norden des Iraks und hinterliessen ein Volk in tiefen kollektiven Traumata. Seit der Verbreitung des Islams wird die ethnisch-religiöse Minderheit der Jesid:innen wegen ihres Glaubens verfolgt. Mit den Massakern von 2014 erreichte die Gewalt erstmals das Ausmass eines Genozids: über 10000 Männer und ältere Menschen wurden sofort ermordet, junge Frauen wurden deportiert und auf dem Sklavenmarkt an die Anhänger des IS verkauft oder verlost. Aus diesen Zwangsehen entstanden Schwangerschaften und Kinder: die «Bastarde des IS», wie sie von den Jesid:innen inoffiziell genannt werden. Marya ist eines dieser Kinder.
Ein Jahr nach Maryas Geburt gelang Ana die Flucht, wie rund 3500 anderen jesidischen Versklavten seit ihrer Verschleppung. Doch die Rückkehr dieser Frauen steht unter einem fatalen Stern. Denn in der jesidischen Tradition herrscht ein striktes ethnisches Reinheitsgebot; gemischte Ehen sind verboten. Für die geschändeten Frauen heisst das in der Regel, dass sie ihre halb muslimischen Kinder zurücklassen mussten.
Ana hat einen Ausweg gefunden, der einem im ersten Moment die Haare zu Berge stehen lässt. Die Eltern von Maryas Vater (der mittlerweile im Gefängnis sitzt) waren bereit, Marya bei sich aufzunehmen. Als Mutter und Tochter sich in deren Haus das erste Mal wiedersehen, bleiben ihnen weniger als 48 Stunden. Dann muss Ana zu ihrer Familie zurückkehren, die die Existenz ihre Tochter bis heute leugnet.
Hawar, Our Banished Children erzählt die Geschichte dieser Kinder, die es offiziell nicht gibt. Und das auf bestürzend direkte und gleichzeitig eindrücklich liebevolle Weise. Zusammen mit dem kurdischen Regisseur Mohammad Shaikhow hat die Nahost-Journalistin Pascale Bourgaux mit Ana eine äusserst mutige Protagonistin gefunden und in den acht Jahren Dreharbeiten ausserordentliches Durchhaltevermögen bewiesen, um den jesidischen Frauen eine Stimme zu verleihen und das kollektive Schweigen endlich zu brechen.
Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.