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Boven is het stil (Oben ist es still)

Nach Brownian Movement legt die Niederländerin Nanouk Leopold mit Boven is het stil (Oben ist es still) eine weitere Charakterstudie über einen Menschen vor, der mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen mehr schlecht als recht zurande kommt.

Text: Philipp Brunner / 04. Juni 2014

Momente stiller Sinnlichkeit

Nach Brownian Movement legt die Niederländerin Nanouk Leopold mit Boven is het stil (Oben ist es still) eine weitere Charakterstudie über einen Menschen vor, der mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen mehr schlecht als recht zurande kommt. Im Zentrum steht der fünfzigjährige Bauer Helmer, der nebenher seinen bettlägerigen Vater pflegt. Die beiden reden nur das Notwendigste, ihre Beziehung stand nie unter einem guten Stern. Besuch gibt es kaum, Freunde schon gar nicht. Die einzige Konstante ist der Milchfahrer, der täglich vorbeikommt. Dessen Annäherungsversuche sind so herzzerreissend schüchtern wie Helmers Unvermögen, auf sie zu reagieren.

Als ein junger Knecht eintrifft, ändert sich zunächst nichts, denn dieser Henk spricht noch weniger als Helmer, scheint aber genauso versehrt. Und doch kommt Bewegung ins Gefüge, weiten sich Winzigkeiten zu Momenten stiller Sinnlichkeit: wenn man sich bei der Arbeit körperlich nahe ist; wenn Helmer verstohlen am Aftershave des Jungen riecht; wenn Henk sich von einem Kalb den Finger saugen lässt und weiss, dass er dabei von Helmer beobachtet wird. Am Ende verlässt Henk den Hof so plötzlich, wie er aufgetaucht ist. Der Vater stirbt, und es scheint endgültig still zu werden in Helmers Leben. Doch wer weiss, vielleicht gibt der Milchfahrer ja nicht so schnell auf.

Leopold erzählt fragmentarisch, und obschon so gut wie nichts geschieht, bricht der Spannungsbogen nie ein. Ein Minimum an Musik ergänzt eine Handkamera, die ihren Figuren ruhig atmend nahe ist, ohne ihnen auf die Pelle zu rücken. Wie schon in Brownian Movement scheut sich die Regisseurin nicht, die Körper der Männer zu zeigen. Doch wo andere zu überschöner Ästhetik greifen, bleibt sie sachlich, ohne kühl zu sein. Und wo andere wegschauen, blickt sie hin, ohne den Respekt zu verlieren.

Natürlich kann man sich wundern, dass in dieser Geschichte fast alle Männer schwul sind. Oder man kann den Film als Porträt nehmen, das gerade in seiner Kargheit überraschend intim ist und stimmig der Frage nachgeht, was geschehen kann, wenn Menschen, die mit Lieblosigkeit aufgewachsen sind, Zuneigung und Wärme erleben.

Boven is het stil (Oben ist es still) (NL / D 2013) Format: 1:1.78; Sprache: Niederländisch (DD 5.1 + 2.0), Untertitel: D. Vertrieb: Edition Salzgeber

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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