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Bergauf bergab 4

Nichttriviale ­Maschinen der Beobachtung (Bergauf, bergab)

Hans Haldimanns Bergauf, ­berg­ab zeigt eindrücklich die Schwierigkeiten des Dokumen­tarfilms, der die Realität einfangen will, sie aber als Störfaktor verändert. Dass dies gerade die Wirklichkeit erst erfahrbar macht, gehört zu den produktiven Paradoxien des Mediums.

Text: Johannes Binotto / 01. Mär. 2017

Beobachtung beeinflusst das Beobachtete. Das wissen Quantenphysiker ebenso gut wie Ethnologen. Im Labor zeigt sich, dass Interferenzen zwischen Elektronen in dem Masse abnehmen, je präziser man diese festzustellen sucht. Und so verhalten sich auch Personen unweigerlich anders, wenn sie erst einmal gewahr werden, dass man ihnen dabei zusieht. Diese in der Soziologie als Hawthorne-Effekt bekannte Störung einer Beobachtung durch die Beobachtung selbst ist mithin auch das Dilemma eines jeden Dokumentarfilms. Auch dort droht die Anwesenheit des Aufnahmegeräts eben das zu sabotieren, was es doch so gerne einfangen möchte: Realität. Filmen zu wollen, wie Menschen sich verhalten, wenn sie nicht gefilmt werden, ist ein unlösbarer Widerspruch in sich. Es sei denn, man begreift dieses Dilemma nicht als Nachteil, sondern als eigentliche Möglichkeit des Dokumentarfilms. Tatsächlich lässt sich gerade dort sehr viel beobachten, wo man die Paradoxie der sich selbst störenden Beobachtung nicht zu kaschieren, sondern im Gegenteil frontal in den Blick zu nehmen wagt.

Bergauf bergab 2

In Hans Haldimanns Bergbauernporträt Bergauf, bergab machen sich die beiden Grosseltern Kempf ans Mittagessen. Beten aber, so sagt die Limonade einschenkende Grossmutter zum Filmemacher hinter der Kamera, würden sie erst dann, wenn dieser nicht mehr da sei. Auf die verwunderte Rückfrage des Regisseurs aus dem Off antworten die Eheleute: «Das wäre sonst scheinheilig.» Den beiden Eheleuten ist klar: Wo das Gebet gefilmt wird, verkehrt es sich unweigerlich in Inszenierung. Das Heilige droht unter den veränderten Bedingungen einer beobachtenden Kamera zur blossen Scheinheiligkeit zu verkommen. Dann also lieber gar nicht beten. Für den Grossvater aber, so merken wir ihm und seiner verzögerten Gestik sofort an, ist dieser Verzicht auf das alltägliche Ritual mindestens ein so grosses Problem wie die Vorstellung, vor laufender Kamera beten zu müssen. Für einen kurzen Moment hilflos, sitzt er vor seinem Teller und ist gefangen in eine jener Zwickmühlen, aus denen man nicht hinauskommt: Man sollte anfangen zu essen, um die Drehsituation aufzulösen. Anfangen zu essen aber kann man nur, wenn man zuvor gebetet hat. Beten aber kann man wiederum nur, wenn nicht mehr gedreht wird. Gefangen in einer in sich selbst drehenden Endlosschlaufe weiss man weder aus noch ein. Nichts geht mehr, für einen winzigen Augenblick. Da hilft die Grossmutter ihrem Mann aus der Sackgasse und meint, «wenigstens das Kreuzzeichen» könnten sie ja machen. Als Kompromiss zwischen frommem Gebetsverzicht und blosser Scheinheiligkeit kann nur das Kreuzzeichen die Knoten widersprüchlicher Forderungen wieder auflösen. «So, guten Appetit!»

Bergauf bergab 3

Ein anderer Regisseur hätte sich damit wohl nicht begnügt. Ein anderer Regisseur hätte versucht, jene klischierte Ansicht bäuerischer Gottergebenheit am Mittagstisch zu erzwingen, die er sich vorgestellt hat. Es wäre gewiss eine den Zuschauererwartungen gefälligere Szene entstanden. Und gerade dadurch eine sehr viel weniger wahre. Denn tatsächlich zeigt nichts so präzise, wie absolut ernst es dem Bauernpaar mit seiner Frömmigkeit ist, als die Tatsache, dass sie nicht beten, aber ohne zu beten auch nicht essen können. Weniger absichtlich, dafür aber umso eindrücklicher blitzt in diesen dreissig Sekunden, die diese Szene gerade mal dauert, eine komplexe Wahrhaftigkeit auf, die andere Filme selbst bei aufwendigstem Einsatz nicht erreichen. Die stockende Bewegung des Grossvaters verrät so viel Persönlicheres als jegliches Ausagieren.

So kriegt die Paradoxie der sich selbst störenden Beobachtung in dieser Szene einen zusätzlichen Dreh: Die Beobachtung, die eben das verhindert, was sie hatte beobachten wollen, vermag dieses schliesslich doch und überhaupt nur so erfahrbar zu machen: als Verhindertes. Persönliches zeigt sich, aber es zeigt sich gerade als Verweigerung. Nicht was der Dokumentarfilm ins Bild zu setzen vermag, sondern gerade das, was sich seiner Kamera entzieht, entpuppt sich als sein eigentliches Thema.

Bergauf bergab 4

Der Filmemacher ist somit nicht bloss Störung, sondern vielmehr Kata­lysator, der eine veränderte Bedingung schafft, die diesen komplexen Prozess überhaupt erst in Gang setzt. Nicht umsonst sehen wir denn auch in ­einer Einstellung dieser Szene, dass auf dem Küchentisch der Kempfs nicht etwa nur deren beider, sondern auch ein dritter Teller steht: der Teller für Hans Haldimann. Auch das ist etwas, was andere Filmemacher nicht gezeigt hätten. Hier hingegen verweist dieser dritte Teller auf den eigentlichen Clou der Szene: Der Beobachter sitzt mit den Beobachteten mit am Tisch. Der Beobachter ist ins Beobachtete inkludiert – er stört es und aktiviert es zugleich. Die veränderten Bedingungen, die unter Beobachtung stattfinden, werden aus dieser nicht ausgeklammert, sondern in sie eingebaut. Die Kybernetik nennt das Rekursion.

In seinem Vortrag zu den «Prinzipien der Selbstorganisation» führt der Kybernetiker Heinz von Foerster die Unterscheidung zwischen trivialen und nichttrivialen Maschinen ein. Eine triviale Maschine ist eine, bei der ein bestimmter Input immer denselben Output ergibt. Wer einen Lichtschalter drückt, darf erwarten, dass das Licht angeht; wer einen Ball in die Luft wirft, kann darauf wetten, dass dieser wieder runterfällt. Auch die immer gleich ablaufende Abfolge von Tischgebet und Mittagessen bei den Kempfs folgt wohl einer solchen Logik. Triviale Maschinen funktionieren vorhersehbar und immer gleich. Nichttriviale Maschinen hingegen sind solche, bei denen der Input zugleich den inneren Zustand der Maschine und dabei ihre Funktionsweise laufend verändert. Während also bei der trivialen Maschine derselbe Input immer auch denselben und mithin erwartbaren Output erzielt, führt bei einer nichttrivialen Maschine derselbe Input zu immer anderen und folglich unerwarteten Outputs. Das macht nichttriviale Maschinen freilich anstrengender in der Handhabung, aber auch deutlich interessanter.

Bergauf bergab 5

Die Bildermaschine des Films, würde sie immer nur wieder dieselben erwartbaren Ansichten generieren, auf die man vorgängig bereits spekulieren konnte, wäre eine triviale. Wo sie hingegen sich selbst in das, was sie verarbeitet, mit einschreibt, verändert sie laufend ihre Möglichkeiten. Plötzlich vermag sie zu zeigen, was wir ihr vorher gar nicht zugetraut hätten. «Wenn wir den Zündschlüssel des Autos drehen, dann muss das Auto starten, wenn wir eine Telefonnummer wählen, dann erwarten wir die richtige Verbindung, und so weiter: Wir wollen triviale Maschinen», schreibt von Foerster. «Wenn wir aber anfangen, einander zu trivialisieren, dann werden wir nicht nur alle bald blind sein, wir werden vielmehr blind gegenüber unserer Blindheit sein. Wechselseitige Trivialisierung reduziert die Anzahl der Lebensmöglichkeiten […]. Die uns gestellte Aufgabe ist vielmehr: Ent­trivialisierung.» Gerade das könnte auch die Aufgabe des dokumentarischen Films sein: Beobachtung unter sich laufend verändernden Bedingungen zum Ziel der Enttrivialisierung. In Bergauf, bergab lässt es sich beobachten.

Bergauf bergab 6

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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