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Ruäch

Ruäch – eine Reise ins jenische Europa

Die Menschen, die dieser feinfühlige Film antrifft, eint die Sehnsucht nach Freiheit und die Liebe zu ihren Familien, aber auch eine düstere Vergangenheit.

Text: Karolina Sarre / 25. Apr. 2023
  • Regie

    Andreas Müller, Simon Guy Fässler & Marcel Bächtiger

  • Kamera

    Simon Guy Fässler

  • Schnitt

    Marcel Bächtiger

Im Dokumentarfilm Ruäch – eine Reise ins jenische Europa fahren die beiden Regisseure Andreas Müller und Simon Guy Fässler mit ihrem Wohnmobil von den Wäldern Kärntens über Täler in Graubünden bis nach Savoyen.

Vor der Uraufführung in Nyon luden die beiden Regisseure, der Co-Autor Marcel Bächtiger und der Produzent Frank Matter das Publikum zu einem Aperó vor ihrem Wohnmobil ein. Zu Gast waren nicht nur Filminteressierte, sondern auch viele Jenische, die selbst Teil des Films sind. Schon am Vorplatz des Kinos feierten sie und strömten mit fröhlicher Stimmung in Richtung der Aufführung. Eine familiäre Atmosphäre, die sich auch durch den Film zieht, spiegelte sich im ausverkauften Saal wider.

Die Jenischen sind eine Minderheit, die in keinem Land ausser der Schweiz als solche anerkannt sind. Somit sind auch ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Lebensweise nicht anerkannt. Jenische werden oft mit Sinti und Roma gleichgesetzt, sind aber ein hiesiges Volk, das sich früher vermehrt durch ihre nicht-sesshafte und reisende Lebensweise ausgezeichnet hat. Die Bezeichnung «Fahrende» entspricht oft nicht mehr der Realität. Viele mussten sesshaft oder semi-nomadisch werden, weil sie von Behörden dazu gezwungen werden. Die meisten Jenischen wollen im Verborgenen leben, da sie mit den Ämtern, der Polizei und anderen Problemen zu kämpfen haben. Wie man bei Isabelle und ihrer Mutter im französischen Annemasse gut sehen kann. Ein Gesandter des Bürgermeisters besucht sie, um die Sicherheit des Hauses zu überprüfen. Diese Art von Kontrollbesuch ist nicht selten, meint Marie in einer Szene des Films, in der sie dem Kontrolleur durchs Haus folgt.

Dass die Protagonist:innen ihr Leben mit der Öffentlichkeit teilen mögen, hat sicherlich mit dem sympathischen und angenehm-neugierigen Auftreten der beiden Regisseure zu tun. Die Vertrautheit, die zwischen ihnen und den Jenischen herrscht, ist immerzu spürbar. Beim Stopp ihres Wohnmobils in Andeer in Graubünden treffen sie auf Lisbeth, die seit 25 Jahren auf einem Stellplatz in einem Wohnwagen wohnt. Lisbeth sitzt in ihrem Zuhause und hält eine Zigarette in der Hand, während sie von ihrer traumatischen Kindheit erzählt. Im Zuge der Massnahmen des «Hilfswerks Kinder der Landstrasse», das zur Stiftung Pro Juventute gehört, wurden seit 1920 bis in die frühen Siebzigerjahre rund 600 jenische Kinder von ihren Familien meist gewaltsam getrennt und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht. Lisbeth konnte durch den Schutz ihrer Mutter einem solchen Schicksal entkommen. René, einem anderen in Graubünden lebenden Jenischen, erging es anders. Er wurde als kleiner Junge aus seiner Familie entführt und konnte erst Jahre später fliehen. Viele Jenische sind auch von unzähligen strukturellen und gesellschaftlichen Ausgrenzungen traumatisiert. Sie versuchen oft, ihren Kummer in Alkohol zu ertränken, erzählt René, der rauchend am Küchentisch sitzt und nachdenklich aus dem Fenster schaut.

Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger gelingt ein eindrucksvolles dokumentarisches Road Movie, das einen durch die Geschichten der verschiedenen Protagonist:innen führt. Der Film bietet Jenischen eine Plattform und trägt zur Aufarbeitung der Geschichte bei.


Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.

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