Filmbulletin Print Logo
West of the tracks 2

Stoffliche Übertragung

Wie kann ein Film etwas von einem fremden Leben einfangen? Das ist die Schlüsselfrage, die die Filme von Wang Bing, einem der originellsten Dokumentaristen der Gegenwart, auf jeweils unterschiedliche Art umkreisen.

Text: Lukas Foerster / 29. Okt. 2019

Der Mann ohne Namen lebt ein einsames Leben in einem menschenfeindlichen Niemandsland. Er ist kein Pionier, sondern ein Übriggebliebener. Die Landschaft, durch die er sich bewegt, langsam, aber unermüdlich, trägt die Zeichen vormaliger industrieller und agrikultureller Nutzung. In dem Erdloch, in dem er wohnt, hat er jede Menge Zivilisationsschrott angesammelt, der, gemeinsam mit den Früchten einiger selbst angelegter Felder, zu seiner Lebensgrundlage geworden ist. Aus Plastiktüten und Verpackungsmaterialien extrahiert er Lebensmittel, die er anschlies-send in durchgerosteten Töpfen kocht und von zertrümmerten Keramikschalen verzehrt. Nachts hält er sich mit zerfledderten Stofffetzen unergründlicher Herkunft die Kälte vom Leib.

Was passiert, wenn man jemanden wie den Mann ohne Namen filmt? Wie kann eine Filmkamera einen Zugang finden zu einem Leben, das, aus welchen Gründen auch immer (der Mann ohne Namen ist, vorsichtig ausgedrückt, nicht allzu gesprächig), aus allen kulturellen, politischen, zivilisatorischen Zusammenhängen, in denen der übergrosse Rest der Menschheit sich bewegt, herausgefallen ist? Wie, vor allem, kann ein Film über den Mann ohne Namen ebendieses Herausgefallensein, diese absolute Aussenseiterschaft kommunizieren, ohne dabei doch wieder auf die Begriffsraster einer Welt zurückzugreifen, deren Teil dieser Mann nicht (mehr) ist?

Eine Antwort auf solche Fragen gibt der nach dem Mann ohne Namen benannte Film: Wang Bings Man with No Name (2010) ist eine verstörende Übung in dokumentarischem Minimalismus. Der Regisseur hat seinen Protagonisten über ein Jahr hinweg immer wieder gefilmt, er zeigt ihn bei den mühsamen Versuchen, eine harte, staubige Landschaft zu bewirten, zeigt ihn beim Abdichten seiner behelfsmässigen Unterkunft, und er zeigt ihn, immer wieder, in dieser Unterkunft, vor der Feuerstelle kauernd, um sich herum Berge von Unrat, die für uns nach chaotischer Müllkippe aussehen, in denen sich der Mann ohne Namen aber problemlos und sogar mit einer gewissen ökonomischen Eleganz zurechtfindet.[...]

Den ganzen Essay können Sie in der Printausgabe von Filmbulletin lesen: Ausgabe 7/2019 bestellen

Dead souls 2

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Essay

03. Apr. 2023

Eine schöne Zeile und ein tragisches Ende

In a Lonely Place hätte eine Liebesgeschichte sein können, doch Bogarts verbitterter Drehbuchautor wird des Mordes beschuldigt. Dabei enthält diese zynische Schilderung Hollywoods die wohl tragisch-schönste Zeile, die ein Drehbuch haben kann.

Essay

01. Sep. 1994

Schein-Schwangerschaften

Grossesse nerveuse, Lou n'a pas dit non, Tschäss und Wachtmeister Zumbühl – Die Filme von Denis Rabaglia, Anne-Marie Miéville, Daniel Helfer und Urs Odermatt veranschaulichen zusammenzenommen ganz handlich, wie's um unser Kino heute bestellt ist, nämlich weder zum Besten noch zum Schlechtesten. Gesamthaft wenig anders als sonst.

Essay

14. Juni 2017

Die unmögliche Sekunde

Lav Diaz, zuletzt ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, ist in aller Munde. Bekannt wurde der philippinische Cineast für seine bis zu zehnstündigen Schwarzweissfilme, in denen er die lange Leidensgeschichte des philippinischen Volks porträtiert, vor allem in der Marcos-Ära. Aber diese Filme sind nicht einfach «lang», sondern lassen eintauchen in das Bleiben einer verdichteten Zeit unter Bedingungen des Leidens und des Wahnsinns.