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Tomboy 01

Tomboy

So atmosphärisch wie Céline Sciamma ihren Film beginnt, so präsentiert sich dieser tout court: mit ruhiger Kamera, herausragenden Hauptdarstellerinnen, ganz ohne Hintergrundsmusik – und mit grossartiger Visualität. Es ist die Geschichte eines tomboy: eines Mädchens, das auch als Junge durchgehen könnte und sich im Film auch tatsächlich als Junge ausgibt.

Text: Doris Senn / 27. Juli 2011

Ein flaumiger Nacken, kurzes, wuscheliges Haar, gleissendes Sonnenlicht, das zwischen den am Himmel vorübergleitenden Baumkronen als Lichtpunkte durchblitzt – die Hand, das Gesicht im Fahrtwind: Die zehnjährige Laure hat Kopf und Oberkörper durchs Dach des fahrenden Autos gestreckt, das sie zu ihrem neuen Domizil bringt. Im Ohr ein fernes Umgebungsrauschen. So atmosphärisch wie Céline Sciamma ihren Film beginnt, so präsentiert sich der Film tout court: mit einer ruhigen Kamera, herausragenden Hauptdarstellerinnen, ganz ohne Hintergrundsmusik – dafür mit einer grossartigen Visualität. Es ist die Geschichte eines tomboy – oder garçon manqué, wie die Franzosen sagen: eines Mädchens, das auch als Junge durchgehen könnte und sich hier, in der Geschichte des Films, auch tatsächlich als Junge ausgibt.

Kurz zusammengefasst geht das so: Laure zieht mit ihrer kleinen Schwester Jeanne und ihren Eltern an einen neuen Ort. Schon in den ersten Tagen nach dem Umzug lernt sie Lisa und deren Clique kennen. Laure sieht nicht nur wie ein Junge aus, sie misst sich auch problemlos mit ihnen, sei es beim Rangeln, beim Schwimmen oder beim Fussball. Und weiss der Kuckuck, was sie antreibt – aber als Lisa sie nach ihrem Namen fragt, sagt sie: «Michael».

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Eine Zeit lang geht das gut – und als die sechsjährige Jeanne, die eng mit Laure verbunden ist, ihr eines Tages auf die Schliche kommt, hält sie dicht. Bis zu jenem Tag, wo die Eltern ins Spiel kommen, und die Sache auffliegt …

Tomboy ist der zweite Film der erst dreissigjährigen französischen Filmemacherin Céline Sciamma. Bereits ihr Debüt, §naissance des pieuvres (2007), war eine sehr stimmige, einnehmende Coming-of-Age-Geschichte: Darin beschrieb sie drei Mädchen eines Wasserballetts, ihre Auseinandersetzung mit dem sich verändernden Körper und die ersten Liebesgefühle der Teenager, wobei das eine Mädchen lesbisch ist und sich in seine beste Freundin verliebt. Schon dieser Film wusste die Balance zwischen einfühlsamem Drama und unbeschwerter Story zu halten – ebenso wie nun Tomboy, der etwas früher in der Kindheit ansetzt und die familiär-kindliche Idylle mit einer subtilen Spannung anreichert.

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Tomboy wurde, sagt Sciamma, mit rund 500 000 Euro und in ganz kurzer Zeit geschrieben und umgesetzt. Die Regisseurin drehte den Film in nur zwei Hauptlocations und in rund 50 Sequenzen. Die Bühne überlässt sie insbesondere den hervorragenden Hauptdarstellerinnen Malonn Lévana als Jeanne und Zoé Héran als Laure. Erstere gibt dem Film seinen kindlich-überraschenden Witz – letztere repräsentiert mit ihrem bravourösen verhaltenen Spiel und ihrem schlaksigen Körper genau die Ambiguität, die es für diese Rolle zwischen den Geschlechtern braucht.

Die Geschichte – die sich an der Autobiografie der Regisseurin inspiriert, die erzählt, in ihrer Jugend selbst ein <garçon manqué< gewesen zu sein – lebt denn auch von diesen stimmigen Vignetten: sei es nun, dass die beiden Schwestern in der Badewanne planschen, Laure ihren dünnen Körper im Spiegel betrachtet und checkt oder die Kids zusammen spielen: Ohne gestelzten Dialog schwingt immer untergründig die Geschlechterpolarität mit – und der Suspense, Laures Geheimnis könnte aufgedeckt werden. So ist ein wunderbar schönes Kleinod entstanden, das aus einer ganz eigenwilligen Perspektive Verständnis schafft für die Dilemmas des Heranwachsens. Und hoffentlich letztendlich auch mitzuhelfen vermag, die gesellschaftlich starre Dichotomie von Jungs und Mädchen zu relativieren und für eine Offenheit zu plädieren, in der auch Tomboys wie Laure / Michael denkbar sind – sei es nun vorübergehend oder länger –, ohne dies zu verherrlichen oder zu dramatisieren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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