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Karl saurer

«Mich interessiert der Umgang mit der sozialen und historischen Realität»

«In der Rückschau kommt mir die Abfolge meiner letzten Filme wie eine sehr logische Entwicklung vor, fast wie eine Trilogie: Der Traum vom grossen blauen Wasser über den Heimatverlust eines Tals in der Innerschweiz und den durch Industrialisierung geprägten Umgang mit natürlichen Ressourcen, dann Kebab & Rosoli, ein Film mit Heimischen und Geflüchteten, über Asylsuchende bei uns, und jetzt kommen die Themen Ökologie und Migration in Steinauer Nebraska in einem Film zusammen. Das war von mir nicht so geplant.

Text: Walt R. Vian und Josef Stutzer / 01. Apr. 1998

FILMBULLETIN Worum geht es in Steinauer Nebraska?

KARL SAURER Am Anfang standen die Briefe vom ausgewanderten Joseph Alois Steinauer, die ich bei den Recherchen zu Der Traum vom grossen blauen Wasser, die Geschichte vom Bau des Sihlsees, fand. Als ich diese Briefe las, war ich mehr als nur fasziniert, und ich konnte sie einfach nicht mehr vergessen. Das war eine Geschichte, die ich genauer kennenlernen wollte. Wie alle hatte ich zwar von New Glaris gehört, wusste ein bisschen etwas von Leuten, die ausgewandert sind. Auch von meiner Mutterseite her sind damals Leute nach Amerika übersiedelt, aber viel mehr wusste ich nicht.

Diese drei Brüder Joseph Alois, Joseph Anton und Nicolaus Dominik Steinauer, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts weg mussten, auch weg wollten, das war eine Geschichte, die für viele Schweizer, vor allem aus Bergtälern, gültig schien. Eine Familiengeschichte, die allgemeineren Charakter hat.

Dass es mit der materiellen Sicherheit, mit der wirtschaftlichen Prosperität dieser Auswanderer in Übersee langsam, langsam aufwärts ging und jetzt wieder runter geht, diesen Bogen fand ich ebenfalls von Anfang an spannend und wollte genauer herausfinden, weshalb dem so sei.

Schliesslich schrieb ich an die Nachfahren der Steinauers nach Nebraska, weil ich wissen wollte, ob es Fotos und Familienchroniken gibt, die ich verarbeiten könnte. Die Enkelin Genevieve antwortete, ihr Haus sei gross genug, sie hätte viel Material, auch alte Zeitungen, ich solle doch einfach kommen. Als ich sie dann besuchte, nahm ich eine Videokamera mit, damit Gespräche allenfalls gleich beim ersten Erinnern festgehalten werden konnten.

Nach einiger Zeit habe ich dann festgestellt, dass es noch eine Gegengeschichte gibt, der ich nicht ausweichen kann: die Geschichte der ansässigen Indianer, die von unsern europäischen Vorfahren verdrängt wurden. Zunächst hoffte ich, Nachfahren dieser Indianer zu finden, musste aber feststellen, dass es in der Gegend von Nebraska im Mittleren Westen von den Stämmen, die dort wohnten – Oto-Missouria, Pawnee – keine mehr gibt. Die waren dreissig Jahre, nachdem die Brüder Steinauer angekommen waren, in Reservate nach Oklahoma ausgewiesen worden. Trotz der Offenheit und Gastfreundschaft der Leute von Steinauer war es relativ schwierig, über dieses Thema zu reden. Erst mit der Zeit habe ich die eine oder andere Geschichte doch noch erfahren.

Sachkundig wurde ich aber mit Hilfe von Historikern. Die vor kurzem publizierte Studie «An Unspeakable Sadness» von David J. Wishart beschreibt sehr genau, wie die Vertreibung der Indianer von Mitte bis Ende des letzten Jahrhunderts verlief. Auch der Migrationsspezialist in Chicago, Professor Leo Schelbert, ein ausgewanderter Schweizer, hat mir sehr geholfen. Als ich dann noch die Gedichte von Robert J. Conley und die Kurzgeschichte von Leslie Marmon Silko – zwei indianische Autoren der Gegenwart – fand, war ich sehr glücklich, weil ich plötzlich eine Möglichkeit sah, den Vertriebenen eine Stimme zu verleihen.

Bernhard Lehner, der von Anfang an als Cutter das Projekt begleitet hatte, dem ich auch immer wieder etappenweise das Material zeigte, das ich gedreht hatte, meinte, man brauche von dieser Landschaft unbedingt ganz starke Bilder, um diese lyrischen off-Stimmen zu verorten, ihnen Raum zu geben. Das brachte mich dann auf die für einen kleinen Dokumentarfilm vielleicht ein bisschen verwegene Idee, mit einem Helikopter zu arbeiten, um diese Landschaft so zu zeigen, wie sie vor hundertfünfzig Jahren wohl war. Es gibt in den sogenannten Sand-Hills noch grosse Flächen, die wenig urbarisiert sind, Bereiche, wo es kaum Zäune, wo es auch noch seltene Vögel gibt, Kraniche nisten dort, Büffel leben dort, und es gibt tief eingegrabene Wagenspuren. Mit diesen Aufnahmen gab es auf der Bildebene, auf der filmischen Ebene, die Möglichkeit, den weissen und den indianischen Strang ineinander zu verweben.

Auf dieser Basis wurde es ebenfalls möglich, die Chronologie zu verlassen. Nachdem wir sozusagen mit den Auswanderern in Amerika angelangt sind, nach dieser kurzen Vorgeschichte vom Chronisten, der erläuterte, warum Leute weggegangen sind, wagten wir nun eine assoziative Montage, um auch eine andere Art von Geschichtsbild zu vermitteln. Geschichte ist ja nicht etwas Lineares oder Geschlossenes. Dieser Komplexität kann man nicht gerecht werden, indem man eins einfach ans andere reiht. Einen so grossen Zeitraum, ein so komplexes Thema in siebzig Minuten fassen zu wollen, hat ja wirklich auch etwas Verwegenes. Es wäre demnach völlig falsch, wenn der Zuschauer mit dem Gefühl nach Hause ginge, so, er habe jetzt verstanden, wie es sei. Wir wollten auch die Widersprüchlichkeit von Prozessen, auch Wiederholungen in der Entwicklung sichtbar machen und zeigen, dass Ströme manchmal untergründig weiterfliessen und wieder aufbrechen können. Dies, um dem Zuschauer Gelegenheit zu geben, selber Bezüge herzustellen, selber Beziehungen zu erkennen und dann auch weiterzudenken. Sich vom indianischen Denken, etwa was den Umgang mit der Erde anbelangt, inspirieren zu lassen und dann das auf unsere Situation zu beziehen.

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(Bild: Steinauer Nebraska)

FILMBULLETIN Wenn man so will, ist Steinauer Nebraska ein eher essayistischer Film. Wird das verstanden?

KARL SAURER Ob die Leute das annehmen, und ob es ihnen nicht doch zu sprunghaft, zu assoziativ ist, das habe ich mich wirklich oft gefragt. Erstaunlicherweise – soweit ich das jetzt beurteilen kann – scheint dies nicht der Fall zu sein. Die meisten Leute haben das Assoziative und Vielschichtige sogar geschätzt, haben ganz explizit gesagt, dass das kurzweilig war und dass es Spass gemacht hat, diesen Sprüngen zu folgen und selber Beziehungen herzustellen. Ich denke, das Sehverhalten der Leute hat sich wirklich ziemlich verändert. Durch verschiedene Faktoren, natürlich auch die Werbung, haben sie gelernt, mit assoziativen Montagen umzugehen. Insgesamt finde ich es sehr erfreulich, dass auch ein breites Publikum mit solchen Formen umzugehen versteht und sich so offen auf sie einlässt.

FILMBULLETIN Als du die Briefe gelesen hast, war dir dieses Konzept noch nicht klar.

KARL SAURER Es war ein längerer Prozess. Ein wichtiger inhaltlicher Ausgangspunkt war der Gegensatz zur heutigen migrationspolitischen Situation: in einer Zeit, wo Flüchtlinge nach Europa kommen und versuchen, ein Dach über dem Kopf zu finden und ihr Brot zu verdienen, wollte ich daran erinnern, dass es Zeiten gab, wo Menschen, die man heute Wirtschaftsflüchtlinge nennen würde, eben aus ähnlichen Gründen von hier weggezogen sind.

Wenn man ein bisschen zurückschaut, versteht man Dinge, die man gemacht hat, manchmal besser. Jetzt kommt mir die Abfolge meiner letzten Filme wie eine sehr logische Entwicklung vor, fast wie eine Trilogie: Der Traum vom grossen blauen Wasser über den Heimatverlust eines Tals in der Innerschweiz und den durch Industrialisierung geprägten Umgang mit natürlichen Ressourcen, dann Kebab & Rosoli, ein Film mit Heimischen und Geflüchteten, über Asylsuchende bei uns, und jetzt kommen die Themen Ökologie und Migration in Steinauer Nebraska in einem Film zusammen. Das war von mir nicht so geplant. Ich bin durch die Beschäftigung mit der Geschichte auf diese Themen gestossen.

Andererseits ist auch klar: Nebraska hatte etwas Magisches für einen, der aus den Voralpen kommt, aus einer Gegend, wo der Blick ringsum verstellt ist von Hügeln und Bergen. Aus einer solchen Gegend in diese unendlichen Weiten zu kommen und eine Landschaft zu finden mit diesem hohen Himmel, dem Wind, der durchpfeift und verwehte Spuren hinterlässt, das sprach mich sehr an.

FILMBULLETIN Entspricht es deiner Methode, einen Film und eigentlich auch dessen Thema erst im Laufe der Recherche zu entwickeln?

KARL SAURER Als Methode würde ich es nicht bezeichnen, aber es gehört wahrscheinlich zu meiner Art, an Konzepte und Projekte heranzugehen. Ich brauche einen klaren Ausgangspunkt, der mich stark motiviert. Dann aber bin ich sehr offen und auch bereit, das ursprüngliche Konzept zu modifizieren. Wenn ich den Film selber produziere, manchmal auch selber produzieren muss, habe ich grössere Freiheiten. Auch was die Zeit anbelangt. Den Prozess der Aneignung der komplexen Geschichte von Steinauer Nebraska hätte ich kaum in kürzerer Frist so leisten können.

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(Bild: Steinauer Nebraska)

FILMBULLETIN Wie lange dauerte es?

KARL SAURER Ungefähr fünf Jahre. Die Jahreszeiten spielten auch eine Rolle. Als ich das Leben dieser Farmer in Nebraska sah, wie sie von den Jahreszeiten abhängig sind, wie unsere Bauern ja auch, war mir klar, ich brauche – auch für die grossen Zeit-Zyklen des Films – unbedingt Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Winterbilder etwa haben eine spezifische emotionale Ausstrahlung. Das erlaubte beim Umgang mit der Chronologie der Geschichte, auch entlegene Perioden miteinander zu verweben, weil sie durch den Charakter, durch die Aura der Bilder zusammengehalten werden. Das war mir aber nicht von vornherein klar. In der gemeinsamen Arbeit mit Elena M. Fischli, meiner Co-Autorin, und dem Cutter Bernhard Lehner haben wir solche Entdeckungen gemacht und ausprobiert.

Ich musste also mehrmals nach Nebraska, und es gab auch ein Frühjahr, in dem die Farmer weder säen noch pflanzen konnten. Alles hat aber mindestens zwei Seiten. Der Vorteil davon war, dass Bauern Zeit hatten für längere Gespräche. Wenn man bedenkt, wie die Farmer rund um die Uhr beschäftigt sind und sich auch noch um die Familie kümmern, leuchtet ein, dass sie nicht einfach mit einem Dokumentaristen, der irgendwoher kommt, stundenlange Gespräche führen können.

FILMBULLETIN Die Widersprüche, mit denen sich die Zuschauer auseinandersetzen sollen, sind das eine. Andererseits hast du den Film in eine Form gebracht.

KARL SAURER Den Bogen gut zu spannen, so dass er nicht überspannt ist, aber auch nicht zu locker bleibt, dass der Film einen Rhythmus bekommt, der fliesst, der durchaus mal Stromschnellen hat und dann vielleicht wieder flachere Passagen, ist immer wieder eine spannende Arbeit. Man konzipiert zwar, was für Themenblöcke man in der Montage macht, was für Pfeiler diese Bögen brauchen, ob sie aber tauglich sind, zeigt sich erst, wenn man die Passagen geschnitten hat und im Zusammenhang sieht.

Dazu kommt der harte Prozess der Selektion. Bestimmte Sequenzen sind fast gleichwertig oder drücken etwas ähnliches aus, und da muss man sich für die eine oder andere entscheiden. Wichtig ist mir auch, dass bei einem solchen Thema möglichst alle, die an der Geschichte interessiert sind, den Film begreifen können. Wenn ich eine bestimmte Stufe eines Rohschnitts, einer ersten Fassung erreicht habe, mache ich deshalb immer Probevorführungen mit interessierten Leuten, die aber keine Filmschaffenden sind, um herauszufinden, wo allenfalls Schwächen oder Knackpunkte sind, wo etwas offenbar nicht funktioniert.

Viele Zuschauer hätten eigentlich noch länger zuschauen wollen, habe ich feststellen können. Das finde ich an und für sich gut, denn oft wird uns Schweizer Dokumentarfilmschaffenden ja entgegengehalten, dass wir uns zu sehr auslassen und uns zu wenig aufs Wesentliche konzentrieren. Ich will damit nichts gegen längere Filme gesagt haben. Es gibt durchaus Filme, die ganz andere Dimensionen brauchen, um auszudrücken, was sich die Autoren vorgenommen haben: Shoah beispielsweise oder auch Hotel Terminus, um einmal zwei Filme aus anderen Ländern zu nennen.

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(Bild: Der Traum vom grossen blauen Wasser)

FILMBULLETIN Hast du die Länge selbst bestimmt?

KARL SAURER Ich dachte von Anfang an, es müsste gelingen, das Thema in einer Zeit von siebzig bis achtzig Minuten zu fassen. Wenn es ein bisschen länger geworden wäre, der Rhythmus aber gestimmt hätte, dann hätten wir es so belassen. Meine Vorstellung wurde auch durch den vorangegangenen Film, der 85 Minuten war, bestimmt. In ihm, denke ich rückblickend, hätte ich das eine oder andere noch etwas stärker verdichten können. Das Fernsehen hätte noch lieber Sechzig-Minuten-Filme. Ich würde bei einer Zusammenarbeit mit dem Fernsehen aber dennoch versuchen, das Thema so ausführlich wie nötig, wenn auch so konzentiert wie möglich, und filmisch so lebendig und rhythmisch so schön akzentuiert, wie es nur geht, zu gestalten.

FILMBULLETIN Wie vermittelt man dieses Gefühl für Rhythmus jüngeren Leuten, die eine Dokumentarfilmausbildung machen?

KARL SAURER Wie weit man das vermitteln kann, ist eine schwierige Frage. Meines Erachtens kann das nur konkret und im Detail an einzelnen Filmen wirklich diskutiert werden. Man kann Beispiele aus der Filmgeschichte nehmen und studieren, wie das gemacht wurde. Als Schwierigkeit kommt allerdings hinzu, dass wir je nachdem, wann und wo wir leben, wie wir sozialisiert sind, ein anderes Verhältnis zum Rhythmus haben. Im asiatischen Raum wird ein Film anders rezipiert als bei uns. Bei uns wiederum, im urbanen Bereich, in der Stadt, ein bisschen anders als in ländlicheren Regionen. Das Schwierigste, aber auch das Spannendste ist der Zusammenhang zwischen dem, worüber ein Film erzählt, und der Art und Weise, wie er das tut. Da gibt es ein Wechselspiel, eine fast dialektische Beziehung, die man nicht immer rationalisieren kann, die man eher intuitiv erfasst, wo man etwas spürt und wo man seinem Gespür auch trauen muss. Genauso wie man bestimmten Bildern zutrauen muss, dass sie ihre Geschichte erzählen, ohne dass noch ein Dialogsatz im Spielfilm oder ein Kommentar im Dokumentarfilm nötig ist.

Der ehemalige Direktor der Filmakademie in Berlin, Heinz Ratzak, bei dem ich ein paar Jahre gearbeitet habe, sagte immer, er glaube nur insofern an eine Ausbildung in Filmschulen, als man Filme mache, und seien es noch so kleine. Zwei- oder vier- oder zehnminütige, das spielt keine Rolle, sondern nur, dass man sich erprobt und nachher in der Analyse zu verstehen versucht, was jetzt – kein schönes Wort – funktioniert habe und was nicht, warum, oder warum für mich und warum für ihn nicht.

FILMBULLETIN Hast du für die beiden andern Filme der Trilogie auch fünf Jahre benötigt?

KARL SAURER Beim Sihlsee-Film war es ähnlich. Die historische Aufarbeitung der Thematik war nicht so fortgeschritten, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich hatte gedacht, ich könnte da mehr übernehmen, und musste dann erst ins Archiv. Beim Asylbewerberfilm dagegen habe ich zusammen mit Elena M. Fischli rasch auf eine akute Situation reagiert.

Eigentlich war ich nach zwanzig Jahren in Deutschland nach Einsiedeln zurückgekehrt, um die Geschichte vom Sihlsee zu recherchieren und diesen Film zu machen. Ich merkte, das gelingt nur, wenn ich wieder vor Ort sesshaft werde. Diese Prozesse brauchen Zeit. Es muss ein Vertrauen unter den Beteiligten hergestellt werden, sonst kann man keine gute dokumentarische Arbeit machen. Gerade älteren Leuten, die einem viel geben sollen, muss ich die Chance einräumen, dass sie mich kennenlernen und dass wir uns aufeinander einstellen können.

Als ich nun wieder in Einsiedeln lebte, habe ich mitbekommen, welche Ängste Fremden gegenüber vorhanden waren, als plötzlich an die hundert Asylbewerber der Region zugeteilt wurden. Ich wollte der Ablehnung etwas entgegensetzen und auch zeigen, warum die Asylbewerber hier sind und was für Leute sie sind. Die High8-Kamera, die ich für die SihlseeFilm-Recherchen und die langen Interviews hatte, konnte ich nun gut gebrauchen, um auch sporadisch die Geschichte von einzelnen Asylsuchenden, die es zufällig in diesen Raum Innerschweiz verschlagen hatte, zu dokumentieren.

Wir haben uns allerdings bewusst beeilt, das Material möglichst bald in eine Form zu bringen, rasch zu montieren und zu mischen, damit man mit dem Film in Veranstaltungen arbeiten konnte. Kebab & Rosoli war mittellang, etwa 48 Minuten, lieber hätte ich ihn noch ein bisschen kürzer gehabt, damit nach der Projektion genug Zeit bleibt, über Fragen, oder eben auch über Gefühle zu reden, die so akut waren, dass sie zum Teil zu Übergriffen geführt hatten. Das war ein viel schnellerer Prozess, obwohl auch hier die Hürde des Vertrauens genommen werden musste. Er ging eigentlich nur deshalb gut, weil Elena M. Fischli seit Jahren mit Asylsuchenden, gerade auch mit Frauen und Mädchen, Kontakt hatte. Wir haben bei Kebab & Rosoli auch versucht, die Beteiligten stärker einzubeziehen. Zum Teil haben sie selber ihren Arbeitsplatz gefilmt, haben vorgeschlagen, ein Geburtstagsfest oder das Kind, das zum ersten Mal die Erwachsenen füttert, weil es schon so gross ist, aufzunehmen. Das war eine sehr schöne Zusammenarbeit.

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(Bild: Das Brot des Bäckers)

FILMBULLETIN Würdest du das Prinzip Vertrauen verallgemeinern und auf jeden Dokumentarfilm ausdehnen oder doch als spezifische Arbeitsmethode von dir betrachten?

KARL SAURER Viele Dokumentarfilmschaffenden würden die Auffassung teilen, dass Vertrauen eine unabdingbare Voraussetzung ist. Es gibt vielleicht eine Ausnahme: Wenn ich jemanden entlarven will. Wenn Marcel Ophüls in Hotel Terminus Kollaborateure des Nazi-Regimes aufspürt und blossstellen will, dann ist dies ein anderer Ausgangspunkt, als wenn ich mit Leuten einen Film über ihr Leben, ihre Geschichte, über ihre Ängste, über ihre Hoffnungen mache.

Zu diesem Prinzip des Vertrauens gehört für mich ganz klar, dass ich den Film immer zuerst den Menschen zeige, mit denen ich ihn gemacht habe. Einerseits damit sie, wenn ich wirklich unbedacht etwas verzerrt hätte oder vielleicht zu wenig sensibel war, allenfalls noch reagieren können. In der Regel geht es aber darum, ihnen etwas zurückzugeben und von ihnen auch zu erfahren, wie sie das jetzt aufnehmen, was sie damit anfangen können.

Von daher war für mich die Vorführung in Steinauer in Nebraska eine ganz wichtige. Ich war sehr gespannt , wie die Leute dort gerade die Frage des Umgangs mit den native people aufnehmen würden. Mit wenigen Ausnahmen akzeptierten sie meine Umsetzung und fanden, das war richtig und wichtig. Es gab sogar einige, die meinten, vielleicht sei es eine Chance, besser zu begreifen, dass dies zwar ihre Geschichte ist, aber dass es auch eine europäische Verantwortung für die Vertreibung der Indianer gibt. Es gab wirklich nur einen oder zwei Zuschauer, die sagten, der Film sei zwar schön, aber das mit den Indianern sei daneben, denn im Grunde hätten die Weissen den Indianern ja die Zivilisation gebracht. Ich als Europäer würde das falsch sehen.

Das Interesse für den Film und seine Geschichte war übrigens riesig. Ein Kino gibt es in Steinauer leider nicht mehr. Der Ort hat nur noch 92 Einwohner, aber es kamen über siebenhundert Leute zu den Vorführungen. Sehr heftige Diskussionen gab es auch in der nächsten grossen Stadt, in Lincoln, im dreihundertplätzigen Kino, das uns Gastrecht gewährte. Ich bekomme heute noch Briefe. Meistens sehr ausführliche Briefe, die von weiteren Aspekten erzählen. Auch bei den Vorführungen in der Schweiz traf ich immer wieder Leute, die mir neue Geschichten aus dieser Gegend oder von ausgewanderten Vorfahren berichteten. Das finde ich sehr schön.

Ich erlebe, seit der Film angelaufen ist, vielfältige Reaktionen von ganz unterschiedlichen Leuten. Das war schon beim Sihlsee-Film so, aber jetzt bei Steinauer Nebraska noch in grösserem Masse, vielleicht auch, weil ich versuche, jetzt ein bisschen erreichbarer zu sein. Wenn man genügend Chancen bekommt, den Film zu zeigen, und die Presse darauf hinweist, kann man viele Menschen erreichen.

Die Reaktionen der Zuschauer ermuntern auch, wieder etwas Neues anzupacken. Diese Frage kommt ja oft: Hast du schon wieder eine Idee? Oder es gibt konkrete Vorschläge. Holz Schläike Mid Ross, der kleine Film, den ich mit Franz Kälin realisierte, resultierte aus dem Vorschlag eines Försters, der meine andern Filme gesehen hatte. Ich habe sofort Bilder gesehen und eine Möglichkeit, etwas über den Umgang mit der Natur – das ist offenbar etwas, das mich doch stark beschäftigt – zu vermitteln, ohne viel erklären zu müssen. Es ist natürlich immer das Schönste, wenn Bilder für sich sprechen.

Ich habe jetzt zwar in Steinauer Nebraska, auch aus dramaturgischen Gründen, zum ersten Mal einen kleinen persönlichen Kommentar gemacht. Das «Reisejournal» hilft, den Fluss des Films ein bisschen zu beschleunigen. Der Kommentar soll aber auch zeigen, dass es eine subjektiv wahrgenommene und gestaltete Geschichte ist. Das ist mein Blick auf die Geschichte, das ist nicht enzyklopädisch, umfassend, das ist eine subjektive Auseinandersetzung, die aber dennoch allgemein zutreffende Erkenntnisse zutage gefördert hat. Es ist keine didaktische oder historisch-wissenschaftliche Arbeit. Es ist letztlich doch ein persönlicher Film – ein Autorenfilm.

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(Bild: Holz Schläike Mid Ross)

FILMBULLETIN Wie würdest du dich als Filmemacher positionieren?

KARL SAURER Filmemacher, die mich schon früh fasziniert haben, waren Robert Flaherty oder Joris Ivens. Theo Angelopoulos hat mich wegen seiner Geschichtsaufarbeitung in O Thiasos sehr interessiert. Ivens frühe Filme sind kleine Studien des alltäglichen Lebens, des Regens, einer Brücke, sein Werk reicht aber bis hin zu komplexen politisch-gesellschaftlichen Prozessen, wie in Wie Yü Gung die Berge versetzte oder eben diese Mischform in Une histoire du vent.

Vor Jahren gab es in München eine Retrospektive zum Kino des Neorealismo und das war, wenn ich jetzt zurückblicke, ein Schlüsselerlebnis. Meine Interessen kreisen immer wieder um die Auseinandersetzung mit der sozialen und historischen Realität. Dabei ziehe ich es vor, dort anzusetzen, wo es scheinbar unspektakulär, wo es alltäglich ist. Eine Rekonstruktion des Absturzes eines Zeppelins oder des Untergangs der Titanic würde mich nicht motivieren. Mich interessiert eher, an einem kleinen Ort wie Steinauer Nebraska, der nicht einmal auf allen Karten verzeichnet ist, etwas – im Wortsinn – zu entdecken, dort zu graben und auf etwas zu stossen, das vielleicht dann doch umfassender und spannender ist, als man erwarten könnte.

FILMBULLETIN Du hast eine Nische gefunden, die es dir ermöglicht, in der Schweiz Filme zu drehen, und hast dich da eingerichtet.

KARL SAURER Wenn man das strukturell sieht, ist es zutreffend, dass es da eine Nische gibt, in der auch ich ein Stück weit Unterschlupf gefunden habe. Unabhängig davon entzündete sich der Antrieb für mein Filmschaffen immer an Themen, Stoffen und Motiven, die mich wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewegten und gleichermassen eine Herausforderung auf der ästhetischen Ebene waren.

Je länger ich weg war aus der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, desto stärker habe ich beispielsweise das Interesse verspürt, die Geschichte dieses Tals zu erzählen, das für ein Speicherbecken überflutet wurde. Hunderte von Menschen mussten weg. Man hat kostbaren Boden geopfert für den Strom, der im Unterland gebraucht wurde. Ob ich Lust bekommen hätte, mich mit dem Tal, in dem meine Kindheitserinnerungen verwurzelt sind, zu beschäftigen, wenn ich in der Schweiz geblieben wäre, weiss ich nicht. Der Wunsch wurde aber einfach so stark, dass ich das unbedingt tun wollte.

Bald habe ich aber gemerkt, dass ich diesen Film nicht von Zürich oder von Berlin aus vorantreiben, ab und zu mal für ein paar Tage, für ein paar Interviews anreisen, ein paar Einstellungen drehen und dann wieder in die Stadt ziehen kann. Dadurch, dass ich wieder in der Gegend meiner Herkunft lebte, sind andere Projekte, andere Geschichten auf mich zugekommen. Die Geschichte mit dem Asyl, Kebab & Rosoli, hätte ich nicht gemacht, wenn ich in Berlin geblieben wäre. Die Geschichte Holz Schläike Mid Ross wäre nicht auf mich zugekommen, wenn ich nicht da gewesen wäre, und auch Steinauer Nebraska wuchs aus der Beschäftigung mit dem Sihlseestoff und dem Thema Migration heraus. Der Keim war dort schon angelegt. Das Motiv war einfach stark genug, dass ich das machen wollte. Dabei musste ich dann halt wieder – wörtlich verstanden – zu neuen Ufern aufbrechen. Ich hätte nie gedacht, dass ich je einen Film in Amerika drehen würde.

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(Bild: Ed Kaelin und Karl Saurer beim Dreh zu Steinauer Nebraska)

FILMBULLETIN Wie stufst du die Möglichkeiten ein, Filme in der Schweiz zu realisieren?

KARL SAURER Wir in der Schweiz sind im Moment bei einigen europäischen Strukturen ein bisschen isoliert. Isolierter als auch schon, aber wir gehören zu Europa. Am stärksten spüre ich – das hat aber eher etwas mit dem Zeitgeist zu tun –, dass die Aufbruchstimmung verflogen, jedenfalls in meiner Generation nicht mehr spürbar ist. Der Wind ist eben rauher. Auf der anderen Seite gibt es doch nach wie vor Jüngere, die neue Impulse geben.

Der Schweizer Dokumentarfilm wurde übrigens in Berlin immer geschätzt. Die Studenten wollten diese Filme sehen. Ich erinnere mich, wie ich Grauzone von Fredi M. Murer – zwar ein Spielfilm – zeigte, die haben das damals besser verstanden als die meisten in Zürich. Oder Filme wie Züri brännt, sobald sie davon hörten, wollten sie die sofort sehen. Ich habe auch sehr viele Schweizer Dokumentarfilmer an die Akademie eingeladen. Urs Graf hat da gearbeitet, Hans Stürm war da, Luc Yersin für den Ton, Matthias Knauer, auch Alain Tanner.

Bei den Duisburger Dokumentarfilmtagen habe ich eine Zeitlang die Auswahl für die Schweiz gemacht, wie auch für die Oberhausener Kurzfilmtage, weil ich dachte, dass es wichtig sei, dass wir uns unter Nachbarn austauschen. Neben den grossen Festivals wie Berlin und Cannes gibt es diese kleineren Orte, wo man wirklich noch Zeit hat, sich mit Filmen und Fragen wie Gestaltung, natürlich auch Produktion, Finanzierung auseinanderzusetzen, vor allem aber auch die ästhetischen Debatten zu führen. Dieses Modell von Duisburg, zeitgleich immer nur einen Film zu zeigen und dann über den zu reden, auch länger, auch am nächsten Tag noch einmal darauf zurückzukommen, hat mir von Anfang an sehr gefallen. Es ist nicht dieser Basar von bunten Bildern, in dem man hin- und herwetzt und nach fünf Tagen völlig konfus sein kann.

FILMBULLETIN Du arbeitest mit einem kleinen Team, arbeitest lange an den Filmen, veränderst über die Recherche sogar das Thema oder bringst neue Elemente ein. Kannst du dir vorstellen, auch andere Filme zu machen?

KARL SAURER Ich habe ja schon anders gearbeitet. Die Geschichte etwa, die ich zusammen mit Erwin Keusch gemacht habe, Das Brot des Bäckers, war ein Spielfilm. Den durch Rationalisierung, Automatisierung, letztlich durch die Wirtschaftssituation bedingten Untergang eines Handwerks in eine sinnliche Geschichte umzusetzen, war wirklich eine Herausforderung. Vier Jahre lang hat uns niemand geglaubt, dass das jemanden interessieren würde. Aber nachher waren wir damit in der ganzen Welt eingeladen. Das gibt einem doch ein bisschen Selbstvertrauen, eher wieder mal ein Thema aufzugreifen, von dem nicht sofort alle sagen: Ach, das ist ja toll, Mensch, das musst du unbedingt machen!

Ich erinnere mich noch genau, wie das Argument bei Das Brot des Bäckers immer lautete: das will niemand sehen. Willy Segler, ein Redakteur vom ZDF, hat dann offenbar beim Lesen gesehen oder gespürt, was die andern alle nicht erfasst haben, und übernahm die Produktion. Daran zeigt sich, dass Projekte eben auch davon abhängig sind, ob man auf Leute stösst, die sie verstehen.

Bei einem Spielfilm oder einer grösseren Produktion hat man ganz andere Arbeitsbedingungen und Abhängigkeiten, sind die Anforderungen natürlich anders als bei einem Dokumentarfilm. Besonders fasziniert mich auch die Mischform, diese Mischung von Inszeniertem, Fiktivem und Vorgefundenem, Authentischem. Die Verbindung von Gefundenem und Erfundenem habe ich mit Erwin bei Der Hunger, der Koch und das Paradies ausprobiert. Als im Anschluss an Das Brot des Bäckers eine Anfrage vom Schweizer Fernsehen kam, etwas Ähnliches zum Berufsbild des Kochs zu machen, wollten wir nicht die gleiche dramaturgische Methode wiederholen.

Als neue Idee habe ich jetzt ein Kinderspielfilmprojekt, das mich reizen würde. Ich erarbeite zusammen mit meiner Partnerin erst einmal ein Drehbuch. Dann wird sich die Frage stellen, ob ich auch Regie führen möchte. Es ist spannend, die Arbeit von der ersten Idee bis zur Mischung, den ganzen Prozess, mitzumachen und auch bis zum Schluss daran zu feilen, so anstrengend diese Arbeit auch ist. Sie braucht viel Energie, Konzentration und Phantasie. Danach bedeutet es mir viel, die unmittelbaren Reaktionen der Zuschauer zu erfahren. Das ist nicht immer einfach. Ein Beispiel: In den siebziger Jahren bin ich mit Erwin Keusch und Das Brot des Bäckers in die Sowjetunion gefahren und weiss noch, mit welchem Unverständnis die Organisatoren reagierten, wenn ich während der Vorführung in den Saal wollte, um zu sehen, wie die Leute an bestimmten Stellen reagieren. Sie hatten ein schönes Büffet mit Wodka und allem aufgebaut und wunderten sich, dass ich, statt fröhlich zu zechen, ins Kino wollte. Doch etwas von dieser Zuschauerreaktion zu spüren, ist für mich etwas anderes, als nur die veröffentlichte Meinung zu kennen.

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(Bild: Der Hunger, der Koch und das Paradies)

FILMBULLETIN Auf den Dokumentarfilmer würdest du dich also nicht reduzieren lassen?

KARL SAURER Nein, das wäre nicht richtig. Die beiden Spielfilme haben mindestens den gleichen Stellenwert wie meine Dokumentarfilme, und ich habe auch grosse Lust, nochmals so etwas zu probieren. Dass mich das neue Projekt wieder mehr in die Welt hinaustreibt, das gefällt mir. Vielleicht bin ich nicht umsonst auf eine Geschichte gestossen, die ausserhalb der helvetischen Gemarkungen angesiedelt ist. Diese Geschichte kann nicht als Dokumentarfilm entstehen, aber es macht Spass, jetzt wieder einmal die Freiheiten des Erfindens, der Fiktion geniessen zu können. Der Dokumentarfilm ist für mich zwar etwas sehr Substantielles, etwas, wo ich die Realität spüre und auch Menschen kennenlernen kann. Aber es gibt eben auch sehr starke Begrenzungen dessen, was machbar ist. Gerade im Umgang mit den Menschen gibt es Grenzen, die zu respektieren sind, die nur in einem Spielfilm überschritten werden können.

Man muss aber sehen, dass das aufwendigere und teurere Produktionen sind, und dann ist die Frage der Positionierung in der Schweiz natürlich sofort wieder naheliegend. Der Schweizer Markt ist sehr beschränkt. Diese Geschichte, die mir im Kopf steckt, wäre nur als internationale Produktion zu realisieren. Kleinere, vielleicht auch mittlere Dokumentarfilme kann man unter Umständen selber produzieren. Das ist auch einer der Aspekte, warum ich diese kleineren Filme realisiert habe.

Ein grösseres Projekt braucht einen Produzenten. Das ist eine andere Situation, ein ganz anderes Arbeiten. Auf der Stufe der Stoffentwicklung, des Drehbuchs aber ist es noch nicht unbedingt so geldintensiv. Da braucht man einfach Zeit und Imaginationskraft, kann auch allerlei ausprobieren. Ein Projekt bis zu dem Punkt voranzutreiben, wo entschieden werden kann, ob es tauglich scheint, realisiert zu werden, das ist eine schöne Phase. Die Phase mehr des Träumens. Man wacht am Morgen auf und hat wieder eine neue Idee; manchmal hat sich ein Knopf gelöst, manchmal geht es aber auch zäh. Gerade da finde ich es sinnvoll, mit anderen zusammenzuarbeiten. Da gibt es eher wieder einen Anstoss, oder man kann sich mindestens zur Idee des Partners verhalten. Dadurch, dass ich versuche, diese zu verstehen oder zu kritisieren, kommt man oft auf neue Lösungen. Aber man muss dazu die Offenheit und Bereitschaft haben, sich immer wieder auf den andern einzustellen.

Grundlegend gibt es wohl zwei Varianten: diejenigen, die genuin aus sich selber schaffen, und jene, die erst in einer Zusammenarbeit mit Partnern kreativ sind. Ich könnte nie ganz isoliert in einer noch so idyllisch gelegenen Berghütte ein Drehbuch aus mir herausholen.

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(Bild: Kebab & Rosoli)

FILMBULLETIN Machen wir noch einen grossen Sprung zurück. Wie bist du zum Filmemachen gekommen?

KARL SAURER Das ist eine wunderbar einfache Frage. Ich war schon früh fasziniert von diesem Medium. Ein Schulkollege hatte einen Schmalfilmprojektor, und wir haben Vorführungen auf Leintücher gemacht. Während der Sekundarschule hat der Physikpater des Klosters im Kino Etzel in Einsiedeln einen Vortrag über Film, auch über die technischen, die physikalischen, chemischen Aspekte gehalten. Weil ich zu jung war, erlaubte mir der Organisator dieses Volkshochschulkurses, der Veranstaltung quasi heimlich aus der Vorführkabine beizuwohnen. Als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger habe ich «Drehbücher« geschrieben und einen Filmclub im Lehrerseminar in Rickenbach mitgegründet. Um Programme für diesen Filmclub machen zu können, haben wir an Wochenenden Kurse besucht, wo Regisseure wie René Clair vorgestellt wurden. Ich las auch Filmzeitschriften. Einer meiner Lehrer im Seminar war Josef Feusi, der damals die Filmkunde einführte und auch Aussergewöhnliches zeigte, etwa die Experimentalfilme von Norman MacLaren aus Kanada.

In der Studentenzeit habe ich auch kleine Theaterinszenierungen gemacht, aber Film hat mich immer am meisten interessiert. Mit Erwin Keusch zog ich, im Mai 68, nach München. Wir dachten, dass wir da die bessere Gelegenheit hätten, uns mit Film zu befassen. Ich hab dann erstmals auf der Ebene des Schreibens, weil ich da einen besseren Zugang hatte, gearbeitet. Ich habe über Filme geschrieben, bin auf Festivals gereist, je weiter je lieber, um auch andere Kulturen kennenzulernen. Habe vor allem für deutsche, aber auch für Schweizer Zeitungen geschrieben.

Es ergab sich damals auch eine Möglichkeit beim Schweizer Fernsehen, eine kleine Reihe zu planen. Sie hiess «Die Kehrseite» und sollte ein Jugendmagazin werden. Da habe ich mit Gerhard Camenzind und Hannes Meier, einem Schweizer aus Rapperswil, der in München dreht, einen fünfzigminütigen Film Ruhe und Ordnung gemacht. Erwin hat etwas über Lehrlinge gedreht. Beide Beiträge wurden aus Zensurgründen zwar nicht ausgestrahlt, aber das Thema Lehrlinge haben wir dann bei Das Brot des Bäckers wieder aufgegriffen. Die Reihe wurde danach eingestellt, und über diese Zensurgeschichte haben wir ein kleines Cinétract gemacht. An den Solothurner Filmtagen löste Es drängen sich keine Massnahmen auf grosse Debatten aus, und wir wurden mit dem filmischen Flugblatt sogar nach Oberhausen eingeladen. Das hatten wir nun wirklich nicht erwartet.

In Oberhausen habe ich einen ehemaligen Assistenten von München wieder getroffen, der mittlerweile Professor für Filmwissenschaft in Köln geworden war. Günther Erken fragte mich, ob ich nicht bei ihm abschliessen wolle, und so bin ich von München nach Köln gezogen.

Es gab in meinen Tätigkeiten immer einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis. Theoretisch habe ich mich unter anderem mit der Widerspiegelung von Arbeitswelt im Fernsehfilm befasst: Die Berliner Arbeiterfilme bis hin zu Acht Stunden sind kein Tag von Fassbinder. Es gab dann anlässlich der Verleihung des Grimme-Preises eine Veranstaltung in Marl. Professor Erken schlug mir vor, ein Referat zu halten. Ich hatte zwar ein bisschen Bammel, als ich die Namen der anderen Referenten las: Egon Monk und weitere für mich ziemlich bekannte Namen. Erwin kam, um mich in der Diskussion zu unterstützen, und im Anschluss an diese Veranstaltung haben wir Willy Segler vom ZDF bei einem Glas Wein kennengelernt. Dabei sprachen wir auch über unser Projekt mit dem Lehrling und dem Bäcker. Manchmal gibt es Bögen, die retrospektiv sinnvoll wirken, wovon man aber keine Ahnung hat, wenn man drinsteckt.
Die Verbindung von Theorie und Praxis fand ich immer spannend. Es macht mir nach wie vor Spass, ein Dokumentarfilmseminar zu machen, andere Filme genau anzuschauen. Eigene Filme zeige ich dabei selten, da finde ich es viel spannender, mit interessierten Studentinnen und Studenten dahinter zu kommen, wie andere Filme gemacht sind.

FILMBULLETIN Noch ein Wort zum Wechsel nach Berlin?

KARL SAURER Als die Anfrage aus Berlin kam, ob ich nicht als Studienleiter an die Deutsche Film- und Fernsehakademie kommen möchte, war ich etwas überrascht.

Ich wusste nicht, ob ich dieser sehr spannenden, aber auch schwierigen Aufgabe gewachsen sein würde. Die Mauer stand noch. Es war damals eine Nische, dieses Berlin, und es reizte mich, dorthin zu ziehen. Die fünf Jahre, die es dann geworden sind, waren sehr intensiv mit den Studenten und den Gremien. Aufnahmeprüfungen organisieren, mit Studenten auf Festivals gehen, und immer wieder den neuen Studienplan erarbeiten in Gremien, drittelparitätisch, Studenten, Dozenten und die Administration. Ich musste dann allerdings erkennen, dass man nicht intensiv an einer Akademie arbeiten und eigene Filme machen kann. Im Schneideraum – wir haben damals Der Hunger, der Koch und das Paradies in Zürich geschnitten – hatte ich die Probleme von Berlin im Kopf, und in Berlin dachte ich an den Film. Ich lebe ganz und gar mit einem Projekt, und wenn ich eine andere Arbeit mache, dann lebe ich in ihr.

Ich möchte diese Berliner Erfahrung aber auf keinen Fall missen. Ich habe da gute Leute kennengelernt, von denen ich, vielleicht unbewusst, eher durch ihre Haltung beeinflusst worden bin; Jürgen Böttcher etwa oder Volker Koepp. Deren 35mm-Dokumentarfilme gehören zu den besten, die ich kenne. Als Schweizer konnte ich ohne weiteres nach Leipzig, aber auch zu andern Veranstaltungen fahren und diesen Kontakt mit DDR-Dokumentaristen pflegen.

Der hunger der koch und das paradies2

(Bild: Der Hunger, der Koch und das Paradies)

FILMBULLETIN Der 35mm-Dokumentarfilm und die Produktionsbedingungen heute, Video und so, ist das eine Veränderung zum Besseren?

KARL SAURER Die verbesserte Möglichkeit, mit Video und diesem digital produzierten Bildmaterial ganz gute 35mm-Kopien machen zu können, finde ich sehr positiv. Das erhöht die Chancen, ins Kino zu kommen, nicht nur wegen der Qualität an sich oder dem Thema, sondern weil einige Kinobesitzer doch lieber 35mm spielen. Es gibt ja auch viele kleinere Kinos auf dem Land, die nur 35mm-Projektoren haben.

Am liebsten hätte ich die Landschaften in Steinauer Nebraska in 70mm gedreht. Anderseits hatte ich diese intimen, kleinen intensiven Gespräche mit älteren Leuten, bei denen Video viel geeigneter war.

Ich denke, dass die neuen Techniken auch gewisse Freiheiten eröffnen, bestimmte Themen im Sinn des Autorenfilmes, ohne grosse Crew, realisieren zu können. Und danach, wenn es gelungen ist, etwas Überzeugendes herzustellen, eine Kinofassung anfertigen zu können.

Kebab & Rosoli war mehr ein Gebrauchsfilm als meine anderen, aber ohne Videotechnik hätte ich ihn gar nicht produzieren können. Der war relativ billig. Wir konnten drehen, ohne erst eine Menge Zeit und Energie investieren zu müssen, um überhaupt an Gelder zu kommen.

FILMBULLETIN Muss man das Publikum für solche Filme nur finden?

KARL SAURER Das Publikum ist da. Es zu finden ist aber auch von der Bereitschaft der Kinomacher abhängig, einem Film entsprechende Chancen einzuräumen. Wenn ich zwei Wochen am Stück spielen kann, komme ich mit den Filmen an Leute heran, die man sonst nicht erreicht. Sonntagsvorstellungen sind zwar meistens gut besucht, diese Matinees sind eine hervorragende Möglichkeit, vor allem in den Städten und Kleinstädten der deutschen Schweiz, aber mit einer kontinuierlichen Spielzeit ist mehr möglich. Ich hab es jetzt erlebt, in Orten wie Schwyz, die zum ersten Mal – das Kino ist neu – einen Dokumentarfilm gespielt haben, zwar um sieben Uhr, aber kontinuierlich. Da kommen schnell gegen tausend Leute, die nicht unbedingt nach Luzern oder Zürich fahren würden. Wenn der Film bei ihnen, in der Region, zu sehen ist, und wenn die lokale Presse anschaulich und inspiriert darüber schreibt – es kann durchaus kritisch sein –, so dass der Film zum Thema wird, dann erreicht man doch mehr Leute, als man dächte. Natürlich muss man sich als Autor, Regisseur auch stellen, muss mithelfen, man kann das nicht einfach nur dem Verleiher überlassen. Man muss schon antreten.

Das Gespräch mit Karl Saurer führten Walt R. Vian und Josef Stutzer

(Titelbild: Karl Saurer; letztes Bild: Kebab & Rosoli)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1998 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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