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So wird d’Schwiiz schmöcke, dää Winter!

Reisender Krieger, der Film mit dem augenzwinkernd irreführenden Titel, ist Christian Schochers «Odyssee». Aus dem listenreichen Griechenfürsten von Ithaka ist ein Schweizer Reisender in Kosmetika namens Krieger geworden. «So wird d ’ Schwiiz schmöcke, dää Winter», verkündet er stoisch landauf, landab in Salons und Shops und hält dem Personal seine Fläschchen der Duftnote «Blue Eye» unter die Nase.

Text: Martin Walder / 01. Jan. 2010

Jenem Bündner Latein- und Geschichtslehrer mit Spitznamen Doktor Hündli sei Dank. Seine ansteckende Begeisterung für die griechische Mythologie war es, die den Schüler Christian Schocher Jahre später – da war er 33 – die Segel hissen und sich mitten in der steinigen Binnenschweiz aufs offene Meer hinaus wagen liess. Will heissen: auf eine filmische Odyssee der wunderlichen Art. «Während Jahren träumte ich von einem Schweizer Road Movie, der Odyssee eines einsamen Mannes durch dieses Land», sagt der heute dreiundsechzigjährige Filmemacher und Kinobetreiber aus Pontresina, der nach Gustav Schwab inzwischen längst auch seinen Homer und James Joyce mit im Rucksack bei sich trug. «Nenne den Mann mir, Muse …»: Mit dem Schriftzug aus dem ersten Satz der «Odyssee» fängt es an.

Reisender Krieger, der Film mit dem augenzwinkernd irreführenden Titel, ist Christian Schochers «Odyssee». Aus dem listenreichen Griechenfürsten von Ithaka ist ein Schweizer Reisender in Kosmetika namens Krieger geworden. «So wird d ’ Schwiiz schmöcke, dää Winter», verkündet er stoisch landauf, landab in Salons und Shops und hält dem Personal seine Fläschchen der Duftnote «Blue Eye» unter die Nase. Oft genug wird selbige Nase dann gerümpft, und das wird man heute wohl fast metaphorisch verstehen. Krieger also, der helvetische Alltagsodysseus: Seine Kirke ist eine baslerisch toughe Coiffeuse im Mittelland und weiss, was Penelope zu Hause fühlen muss. Insofern vertritt sie, der kein Mann etwas vormachen kann, ein wenig Kriegers zu Hause schmachtende Gattin. Homers Königstochter Nausikaa ist hier ein Bündner Bergbauernmädchen im frischen Schnee; zu Hause am Esstisch zieht es an einem ausgezupften Haar stumm ein Papierschiffchen vor Kriegers grossem Schnauz vorüber. Das Gebastel zerfällt, «scho Schiffbruch», murmelt der Bauer. Eine schönere und leisere Erotik muss man im Schweizer Film schon weit suchen.

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Ansonsten herrscht statt Ägäiswellen und Homers dämmriger Frühe, die mit Rosenfingern erwacht, meist nichts als Grau in Grau: Berge, Kräne und Betonburgen. Einkaufszentren, Bars und Coiffeursalons. Statt glänzender Helden nächtliche Gespenster. Statt stolzer Schiffe ein charmeloser Citroën Kombi. Die dokumentarischen Bilder von Clemens Klopfenstein zwischen Zürich und Zofingen, Basel und Nowhere, Tenna und Teufelsstein sind ein Traum in Schwarzweiss. Manchmal auch ein durchaus komischer Albtraum. Ithaka ist keine Insel, nach der man auch nur die geringste Sehnsucht mehr verspürt. Man fühlt sich in dem Film gleich zu Hause, aber mit Sicherheit nicht daheim.

Jetzt gibt es den Director's Cut

Reisender Krieger ist jahrelang einer der wunderlichsten und originellsten Schweizer Filme geblieben, dreieinviertel Stunden lang, überlang, schräg, tief melancholisch, unvollendet. Nicht das, was dem Regisseur eigentlich als Resultat vorgeschwebt hat. Schocher war nämlich mit seinen abgedrehten 28 Stunden Film aufgelaufen und drohte im Material unterzugehen, bis der Cutter Franz Rickenbach ihm unter die Arme griff und ihn rettete. In Locarno musste das Road Movie 1981 am Festival so herauskommen, wie es eben grad war. Mit magerem Echo nach einer Spätvorstellung – erst in Solothurn 1982 wird der Film «entdeckt». «Reisender Krieger katapultiert den Schweizer Film aus der Genauigkeit in die Gewitztheit», schreibt Karsten Witte in der «Zeit». Ohne die Genauigkeit preiszugeben, darf man durchaus beifügen. Aber fast ist diese «Einladung ins Ungewisse» (Witte) inzwischen vergessen gegangen, eine Legende, aber kaum mehr zugänglich.

Zwanzig Jahre später kommt Rickenbach auf Schocher zu mit der Idee, den Film zu kopieren und neu zu schneiden. Das einzige Exemplar in der Cinémathèque suisse ist in gutem Zustand, doch an ein simples Kopieren ist nicht zu denken: Der Film wurde damals auf 16mm-Schwarzweiss-Umkehrfilm gedreht und ist damit also – wie beim Super-8-Format – bloss als Positiv erhalten, ohne reale Möglichkeit, davon direkt weitere Kopien zu ziehen. So gedenkt man, das Original zu digitalisieren und neu schneiden, doch Schocher und Rickenbach finden nicht mehr zusammen. Die Idee bleibt liegen, bis sich der Filmer mit Hilfe eines jungen Cutters aus Pontresina nun selber dran macht.

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Memoriav, der Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz, sagt erst Unterstützung zu, dann aber wird die Absicht, den Film nicht nur zu restaurieren und zu erhalten, sondern eben auch neu zu schneiden, zum Stolperstein. Dafür könne kein Geld gesprochen werden, wird miteins beschieden. Dank privater Investitionen kommen die 150 000 Franken doch noch zusammen, Reisender Krieger wird digitalisiert, restauriert und unter Beibehaltung des in Kinos kaum mehr zeigbaren Formats 4:3 von 16mm neu auf 35mm kopiert und in das gebräuchliche Format 1:1,66 eingefügt, so dass links und rechts schwarze Balken bleiben. Länge: zweieinhalb Stunden . Der sogenannte Director’s Cut. Nur dass wir es hier eben gerade nicht mit einer künstlerisch authentischen Langfassung des Regisseurs zu tun haben, die zuvor fürs Kino von einem bösen Produzenten kommerziell begradigt und gestutzt worden wäre, wie es die Filmgeschichte zu Hauf kennt. «Hier ist der Director’s Cut überhaupt erst der fertig erstellte Film, und er ist kürzer, nicht länger gegenüber der Version von 1981», sagt der Kameramann Patrick Lindenmaier, dessen Firma Andromeda-Film Reisender Krieger restauriert hat und ab Januar nun neu ins Kino bringt. Gestrafft wurde «vor allem im ersten Teil», erklärt Schocher, «da ein Salon, dort eine Fahrt weniger. Der Schluss hingegen mit der Nacht in Zürich ist noch weitgehend der alte.

Die Grenzen des Fiktiven

Die (verlorene) Seele des Films ist der Reisende Krieger, der am Montagmorgen mit dem Auto seine Tiefgarage in der Agglo verlässt und am Sonntag früh besoffen von einem freundlichen Musiker dort wieder abgeliefert wird. Zwischendurch telefoniert er abends mit seiner Frau vom Hotelbett aus, in schwarzen Hosen und weissen Socken; im Fernsehen ist Giscard auf Staatsbesuch. Krieger, mit seinem bleichen Afrolook und müden Augensäcken, sagt ins Telefon: «Du weisch es, ich weiss es, alli wüsseds». Wir wissen gar nichts, aber ahnen ziemlich viel über diese Ehe.

Krieger im beigen Trenchcoat unterwegs führt uns durch die Schweiz und ihre schreckliche Mittelländischkeit. Er spricht wenig, aber er ist unübersehbar da und bringt die andern zum Reagieren und sich Produzieren: einen Bodybuilder im Basler Rotlichtgässli, handfeste Tätowierte an der Bar, die Coiffeuse, die ihm (sinnbildlich) den Wuschelkopf wäscht, den schwafelnden Kollegen Vertreter unterwegs, die Witwe in der Zürcher «Räuberhöhle», die mit ihm ins Bett will, den Drummer, den er irgendwie adoptiert, den von der indischen Heilslehre infizierte Freak an irgendeiner Landstrasse, der ebenfalls partout mit ihm schlafen will. Diesem Krieger ist nichts fremd, einem, der fünf Jahre in der «Legion» in der Wüste verbracht hat. So viel gibt er über sich preis.

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Willy Ziegler heisst der Darsteller, der mit seinem Gesicht aus dem Nichts als der moderne Odysseus im Schweizer Film auftaucht, danach wieder verschwindet und inzwischen seit Jahren nicht mehr gesichtet worden ist. Eigentlich sollte die Figur Krieger zur Hommage an Schochers Basler Freund und Mentor Jo werden, der ihn zu dieser Odyssee überhaupt gepusht hatte. Es soll nicht sein. Da erinnert sich Schocher an einen bestimmten Mann in der Luzerner Stammbeiz seiner Freundin und fragt herum. Das könne nur der Willy Ziegler sein, ein Grafiker, heisst es. Schocher macht ihn in einer Zürcher Mansarde ausfindig und klopft bei ihm an. Ziegler öffnet, der Raum ist mit Bierdosen überstellt: Er kaufe nichts. «Ich will ihnen nichts verkaufen, sondern die Hauptrolle in meinem Film anbieten», sagt Schocher. Ziegler will erst nicht. Als er beim Durchblättern des Drehbuchs beim Budget die Gage von 10 000 Franken für die Hauptrolle entdeckt, will er dann doch. So erzählt es Schocher genüsslich.

Und Ziegler ist der Glücksfall des Films, ein Improvisator von geradezu unverschämt natürlicher Lässigkeit. Keine Sekunde wirkt bei ihm gespielt, er ist einfach, und er ist da. Am Ende ziemlich verladen, das tut dem Film dann auch nicht mehr ganz so gut, Echtheit hin oder her. Stoisch und souverän reagiert er im Film auf seine Umwelt und lässt so das Dokumentarische von unterwegs ins Fiktive gleiten. Reagiert er empfindlich, wie im genial zwischen den Spiegeln eines Salons geführten Dialog mit der Kirke, der Coiffeuse, die im richtigen Leben Kellnerin ist und ihn hinreissend laszive attackiert, ist nicht ganz klar, ob Krieger nicht unversehens zu Willy Ziegler selber geworden ist. Jedenfalls sei dieser nach dem Dreh sehr frustriert gewesen, erzählt der Regisseur, und damit stellt sich die Frage nach der singulären fiktionalen Authentizität dieses Films im Dokumentarischen.

Kunst und Tücke der Improvisation

Die Spielszenen quer durchs Land hat sich der Regisseur zuvor ausgedacht und festgelegt. An Ort wird zu Beginn der Dreharbeiten richtig inszeniert, und nach einer Woche kommt Schocher zur Einsicht: «So geht das nicht weiter.» Denkpause. Danach wird nur noch improvisiert (mit seltenen Wiederholungen bei komplizierteren Travellings), fast in der Reihenfolge des späteren Films – das Road Movie verlangt ja eigentlich naturgemäss danach: «Sieben Wochen lang hat Klopfenstein praktisch mit der Kamera auf der Schulter gelebt und gedreht». Abgesprochen oder spontan auf Zeichen hin. Freunde spielen Rollen, weil Schocher Lust hatte, «dass Freunde sich in meinem Film mitteilen».

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Nicht immer klappt es gleich gut: Die Szenen mit Kriegers Kollege Max auf der A2-Baustelle beim Teufelsstein vor Göschenen wirken unecht, die Dialoge arg gestellt; es ist der schwächste Teil des Films. Da zeigt sich, wie fragil ein solches Unternehmen ist und wie gross das Wunder, im Ganzen mit komischer Leichtigkeit das da und dort recht unerträgliche Sein eingefangen zu haben. Zufälligen Passanten übrigens sind ihre Rollen leicht gefallen: Schocher sagt, er habe beobachtet, wie die Menschen unterwegs zum einen die allseits präsente Kamera wie nicht ernst nahmen und sich zugleich doch recht gerne produzierten. Und dann gab es die Glücksfälle: Ein Spanierabend in Basel, der in eine Keilerei ausartet und vom blitzschnell auf einen Tisch gesprungenen Klopfenstein gefilmt wird – Ziegler-Krieger mittendrin. Der Dialog im Coiffeursalon, der jedes Drehbuch in den Schatten stellt in seiner tristen erotischen Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Aggressivität. Und im nächtlichen Finale im Zürcher Shop Ville – wo, was die Filmer nicht mitbekommen haben, am Abend zuvor die Schiesserei mit RAF-Terroristen stattgefunden hat – schmeisst einer aus einer Telefonkabine mit einem Radiorecorder um sich, ohne die Kamera überhaupt zu bemerken.

Wie weit sich der Filmemacher in der Improvisation auf die Äste hinausgelassen hat, erhellt ein Blick auf die Tonaufnahmen: Über sie hatte Schocher, damals ohne die Möglichkeiten des Funks, oft gar keine Kontrolle. Verwendet wurde das sagenhafte Mini-Nagra der Firma Kudelski, ein taschenbuchgrosses Kunstwerk von Spulengerät mit Studioqualität, das Ziegler in die Brusttasche stecken und auf Handzeichen hin einschalten konnte. Was aufgenommen wurde, konnte aber erst beim Überspielen, für das Patrick Lindenmaier zuständig war, abgehört werden. Zum Beispiel die Szene mit dem Freak, der mi t Krieger schlafen will. Dargestellt wurde jener von Schochers Assistent, der die damals obligaten Erfahrungen in Indien bei einem Guru hinter sich hatte – es handelt sich um den Dorfschullehrer aus Schochers Die Kinder von Furna – und dem Regisseur blind eine eigene Szene im Film abtrotzte, die ihn, Schocher, nichts angehe. Dieser gewährte es.

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Blind gedreht wurde auch die aus dem Hintergrund gefilmte Barszene in der Zürcher «Räuberhöhle» im Kreis 5, in der eine Frau, die man nur von hinten sieht, Krieger Avancen macht. «Die Szene ist mir bis heute etwas peinlich», gesteht der Regisseur, der Klopfenstein damals filmen und Darsteller Ziegler das Mini-Nagra einschalten hiess – und eben erst später entdeckend, was ihm da aufs Band geraten war. Der Dialog, lebenswirklich, wie er ist, amalgamiert sich nahtlos in die Fiktion des Films; ihn dort zu belassen ist von der dokumentarischen Ethik her jedoch in der Tat problematisch. Ausserdem ist die Szene, wie Lindenmaier verrät, technisch neu montiert: Dialog und Bild sind nicht zur gleichen Zeit aufgenommen worden, ebenso wenig wie zum Beispiel die Demonstration der neuen Toilettenwasser-Linie von Alain Delon in einem der von Krieger heimgesuchten Salons. Wie puristisch soll man sein? In einer dokumentarischen Fiktion wie Reisender Krieger darf Spielraum sein. Die Frage nach dem Getreulichen im Director’s Cut hat sich nun auch für den Restaurator Patrick Lindenmaier gestellt. Die neuen 35mm-Kopien des 16mm-Materials sind qualitativ zwangsläufig besser als das Original, aber auch Korn und Fehler treten stärker hervor: Verschmutzungen im Bildfenster zum Beispiel. «Wir haben korrigiert, aber nicht alles», bilanziert Lindenmaier, «haben durch die Digitalisierung neu lichtbestimmt, aber der Film soll keinesfalls “herausgepützelt” wirken.» Und: «Nicht eine penible Restaurierung war das Ziel. Wir wollen den Film zeigen!» Und so ist also Gelegenheit, diesen «undogmatischen», und, ja, avant la lettre kaurismäkianischen oder jarmuschianischen Solitär des Schweizer Films neu zu bestaunen: in seiner Bildkraft, die die «Versiegelung» unseres Bodens im Entstehen vor dreissig Jahren festhält, im Registrieren einer gruslig biederen Fortschrittsmentalität, die heute nur cooler kaschiert, wie bieder sie ist, im Beschreiben jener klimatischen Grauzone, wie sie auch Fredi M. Murer in seinem gleichnamigen Film damals zur gleichen Zeit registriert hat.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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