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Kurzes aus der kanadischen Filmlandschaft

Ein Blick auf das REGARD Kurzfilmfestival im Nordosten von Québec, in der Stadt Saguenay.

Text: Dennis Vetter / 13. Apr. 2017

Der kanadische Filmemacher Karl Lemieux sitzt ziemlich entspannt auf der Bühne und erzählt von seiner Karriere. Zum Beispiel davon, wie er im Filmstudiengang an der Concordia Universität erst eingeschrieben war und nach einem Jahr nicht weiterkam. Weil er einfach nie ein Schultyp war. Er besuchte dann aber trotzdem weiterhin Veranstaltungen, weil er lernen wollte. Es gibt ja meistens einen Weg, wenn man ein bisschen stur bleibt – selbst in Systemen, in denen ein Jahr Uniausbildung über 10 000 Dollar kostet. Improvisation war bei Lemieux schon immer wichtig: Als er noch jünger war, musste er jedes Mal trampen, um zur nächsten Videothek zu kommen. Dort griff er gern zum Horrorfilm. Bestimmt hat ihn daran unter anderem das Handgemachte interessiert. Als er dann anfing, selbst mit Film zu machen, besass er noch keine Kamera und malte stattdessen auf dem Material herum. Seine Filme sehen nicht so aus, als ob da jemals etwas beliebig wäre. Das Faszinosum des Experimentalfilms ist ebendiese Asynchronität von Mittel und Ergebnis; ein einfacher Pinselstrich wird zu einer meterweiten Durchkreuzung von Bildern und Seherfahrungen. Alles eine Frage der Erfahrung, das Sehen wie auch das Machen.

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Bei den Branchengesprächen des REGARD Kurzfilmfestivals im Nordosten von Québec, in der Stadt Saguenay, sitzen bei beiden angebotenen Masterclasses Experimentalfilmemacher auf der Bühne: Karl Lemieux und Momoko Seto. Marktkonformität ist hier also nicht der Taktgeber. Abends, wenn das Festivalpublikum und die geladenen Gäste zusammenkommen, spielt dann eine Stoner Rock Band. Früher gab es auch schon mal einen Wrestlingmatch. Es häuft sich über die Festivaltage hinweg allerlei Unerwartetes. Der ehemalige Festivalleiter Ian Gailer ist heute Leiter des grossen Québec City Film Festivals. In Saguenay hatte er eigentlich noch vor, einen Zoo vor dem Festivalzentrum aufzubauen.

Lemieux zählt heute zu den sichtbaren Experimentalfilmern weltweit, unter anderem durch seine umfangreiche Zusammenarbeit mit der kanadischen Avantgarde-Band Godspeed You Black Emperor. Wenn er mit der Band auf Tour geht und sie eine zweistündige Show spielt, dann bereitet er vier Stunden Material vor. Man weiss ja nie, worauf man Lust hat. Und jeder Ort ist verschieden. Manchmal muss auch ein Projektor erstmal umgebaut werden, damit er Filmmaterial in Endlosschleife spielen kann. Als Lumieux die Band kennenlernte und ihnen im Proberaum zuhörte, war er beeindruckt davon, wie die Musiker aufeinander reagieren, über ihre Instrumente förmlich miteinander sprechen, anstatt einem vorgefertigten Skript zu folgen. Es entstehen Songs von über zwanzig Minuten Länge. Man muss sich für diese Musik Zeit nehmen. Das ist eine Logik, die dem Experimentalfilm und vor allem der Arbeit mit mehreren Projektoren natürlich verwandt ist. Der Wille, eine Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Disziplin und eine Haltung zum Material zu verteidigen. Weil die Produktionsmethodik an sich eine ästhetische Entscheidung in sich trägt, hat Lumieux in Montréal ein Kollektiv für die Produktion und Verbreitung von experimentellen Filmen gegründet – gemeinsam mit dem japanischen Filmemacher Daïchi Saïto: Double Negative.

Im Grunde ist das Festival in Saguenay als Satellit einer Filmszene zu verstehen, als Begegnungspunkt und Ausflugsziel einer Szene, die sich ganz gut kennt, die familiär und durchaus recht bewusst übereinander spricht. Diese frankokanadische Filmszene ist um ihre Identität bemüht, dabei in der Tat nicht riesig und nicht übermässig sichtbar. Nach aussen drangen in den letzten Jahren neben Xavier Dolan oder Denis Côté nicht allzu viele Namen. Selbst ein Veteran wie Bernard Émond, der seit langer Zeit ein präzises philosophisches Kino macht, fällt durch den Radar vieler Festivals. Und selbst in Québec mangelt es anscheinend an Plattformen für unabhängigen Film.

Verglichen mit den USA hat Kanada zwar eine gut funktionierende und zugängliche Film- und Kunstförderung, in Montréal, dem urbanen Zentrum Québecs, gibt es aber kaum noch unabhängige Kinos. Und die Festivalszene hat sich nach dem krisenreichen Bankrott des grossen Festival des Films du Monde von Serge Losique ein wenig verkleinert. Zentral ist dort vor allem das Festival du nouveau cinéma geworden, auf das jedes Jahr direkt das grosse Dokumentarfilmfestival Rencontres internationales du documentaire de Montréal folgt. Im regulären Kinobetrieb kommt beispielsweise der indigene Film immer wieder zu kurz, und das Verhältnis zu einigen Teilen der Bevölkerung bleibt ein stigmatisiertes Politikum. Die Cinémathèque Québecoise zeigt dort gerade eine Filmreihe zur Filmemacherin und Folk Musikerin Alanis Obomsawin. Da sagen dann wiederum manche, es gehe eher um eine Politik des Zeigens als um die Qualität ihrer Arbeiten – gerade ihr Spätwerk sei wohl mit Vorsicht zu geniessen. Dann gibt es dort beispielsweise die Coop Vidéo Montréal, eine gemeinschaftlich betriebene Initiative von Filmemachenden, die sich dem unabhängigen Produzieren verschrieben haben und dieses Jahr das 40-jährige Bestehen des Projekts feiern. Bernard Émond gehört ebenfalls zum Kollektiv. Das wesentliche Filmmagazin in Québec läuft unter dem Titel 24 images. Und dann gibt es zwischen allen Gruppenstrukturen auch die Einzelkämpfer, wie überall. Der Filmemacher Benjamin Taylor hat vor einem knappen Jahr einen unabhängigen Kinoraum ins Leben gerufen: la lumière wird von mehreren Initiativen aus Film, Kunst und Kino bespielt. Dort sollen vor allem Experimentalfilme und das Dokumentarische einen Raum finden. Die Zukunft ist wie so oft noch ungewiss.

An der Offenheit des kanadischen Publikums sollte das wohl nicht scheitern. Die Facetten des Kinos gehen sogar im provinziellen Saguenay gut auf. Weil aus dem ganzen Umland Leute kommen, um das Kino zu feiern, gibt es auch für Experimentalfilmprogramme oder einen Fokus auf Video Poetry volle Säle und Lust am Schauen. Dort war beispielsweise Le bulbe tragique von Guillaume Vallée zu sehen (der Film würde wiederum Karl Lemieux gut gefallen). Vallée ist Teil einer weiteren kleinen Gruppe in Montréal, die sich ebenfalls der Arbeit mit analogem Film auf 8 mm und 16 mm verschrieben hat und in der Szene vor Ort auch für den versierten Umgang mit Magnetbändern und VHS bekannt ist: Groop Index. Unprätentiös, oder geerdet, so lässt sich vieles beschreiben, was sich hier abspielt. Es gibt einen feinen Humor, der sich durch viele Arbeiten und Gespräche zieht; selbstironisch, aber weniger mit der Keule als die britische Komik. Das Klima an diesem Ort hinterlässt eben Spuren – auch im Umgang mit Kunstbegriffen und Disziplinen. An einem Tag im März kann die Temperatur um 30 Grad nach unten stürzen, eine ganze Stadt verändert sich dann und versinkt unvermittelt im Schnee. In Saguenay ist die Natur noch viel präsenter, bietet einen überwältigenden ästhetischen Kontrapunkt zum Viereck des Kinosaals. Ein gespiegelter Himmel in einem 90 Meter tiefen Fjord muss sich vor einem Filmbild nicht verstecken.

Gesellige Programme zum No Budget Film («Shoot, No Matter What!») oder Horror laufen in einer Bar-Atmosphäre. Und generell treibt hier das Nachtleben seltsamste Blüten. Durchaus filmisch, diese Kulisse. Das ist es auch, was viele Filme von Denis Côté gezeichnet hat: Die Faszination für die Grenzen des Zivilisationsraums, die Randbereiche zwischen Stadt und Provinz, zwischen Wissen und dem sonderbaren, kauzigen Ungewissen. Trotz allem: Vieles funktioniert bei diesem Festival in Saguenay kuratorisch nach einer einfachen Sortierungslogik und Filmgespräche bleiben abgesehen von den Branchenveranstaltungen marginal und oberflächlich. Charakter ist hier vor allem eine Frage von Lokalkolorit. Das in Frage zu stellen ist ebenso wesentlich wie imperialistisch.

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