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Pranzo ferragosto 01

Pranzo di ferragosto

Text: Gerhard Midding / 04. Mär. 2009

Spätestens seit Dino Risis I sorpasso wissen wir Kinogänger, wie schwer es ist, am 15. August in Rom auch nur eine Menschenseele zu finden. An Ferragosto herrscht Ausnahmezustand. Die Strassen sind leer, die Wohnhäuser verwaist, die Geschäfte und Bars geschlossen. Das Leben findet anderswo statt, sobald die Sommerhitze die Grossstädter alljährlich aufs Land vertreibt.

Es scheint kaum vorstellbar, dass sich hinter den Fassaden doch so etwas wie urbane Geschäftigkeit zutragen könnte. Gianni di Gregorios Debütfilm entdeckt uns die Welt derer, die daheimgeblieben sind: als ein tragikomisches Idyll des nicht unbedingt freiwilligen Verharrens. Die Protagonisten seines Films haben allerdings ohnehin die Beschaulichkeit des Provinzlebens in die Metropole hinübergerettet. Man kennt sich in der kleinen Nachbarschaft in Trastevere, schreibt beim Lebensmittelhändler an und bedenkt bei einem kleinen Weissen klaglos, wie das Leben an einem vorüberzieht.

Die resigniert-heitere Fügsamkeit ist das Lebenselement Giannis (der vom Regisseur selbst gespielt wird), der in fortgeschrittenem Alter noch immer bei seiner gebieterischen Mutter wohnt. Die kokette, alte Dame liebt das Wohlleben und hat sich einen neugierigen, prüfenden Blick für die männliche Schönheit bewahrt. Er ist ihr ein aufopferungsvoller Sohn und seit ewigen Zeiten daran gewohnt, seine eigenen Lebensträume hintan zu stellen. Mit einer unentwirrbaren Mischung aus Sohnesliebe, Pflichtgefühl und Trägheit führt er den Haushalt und liest ihr beim Schlafengehen aus «Die drei Musketiere» vor. Da er dem Hausverwalter die Miete seit einigen Monaten schuldig ist, willigt er ein, dessen Mutter zu Ferragosto zu beherbergen und zu bekochen. Sodann melden sich auch noch dessen Tante und die Mutter eines Schulfreundes an. Die Feiertage werden zu einer wacker bewältigten Belastungsprobe seiner Verfügbarkeit, münden in einen nur für kurze Verdauungspausen unterbrochenen Marathon der kulinarischen Genüsse.

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Seine Freunde und Nachbarn wären wohl ratlos, würde man sie fragen, wann man Gianni das letzte Mal hat «Nein» sagen hören. Er versteht sich auf die Diplomatie des Alltäglichen, ist ein Genie der Umgänglichkeit. Sein Tonfall ist die Beschwichtigung, er benennt alles vorzugsweise in der Niedlichkeitsform; voller demütiger Freude an der Unerheblichkeit der Dinge. Gianni schlawinert sich durch das Provisorium seines Lebens mit der stillen Ahnung, dass es längst das Stadium der Endgültigkeit erreicht hat. Er ist in einem Alter, in dem der Ehrgeiz zur Veränderung, die Offenheit für Neues schon lange abgestorben sind.

Sein Darsteller hat jedoch selbst noch einmal den Aufbruch gewagt. Nach Jahrzehnten des diskreten Wirkens im Theater und später als Regieassistent und Co-Autor von Filmemachern wie Matteo Garrone führt er nun zum ersten Mal selbst Regie. Pranzo di ferragosto ist gewissermassen die komödiantische Variante von Garrones Psychodramen L’imbalsamatore und Primo amore, in denen es um private Herrschaftsverhältnisse geht, um die Macht, die eine Figur über das Leben der anderen beansprucht – und verrät doch eine ganz eigene Handschrift. Der Debütant wirft einen zärtlichen Blick auf die Falten und die Altersflecken auf der Haut seiner Heldinnen. Sie sind, anders als in Hollywoodfilmen über das Alter, keine Karikaturen der Rüstigkeit, sondern eigensinnige Persönlichkeiten. Jeder darf in diesem Film zumindest ein wenig sich selbst spielen. Die grosszügige Inszenierung schafft einen Raum, in dem sich das Leinwandtemperament der Laiendarstellerinnen prächtig entfalten kann. Achtsam mischt sich die Handkamera in ihr munteres Treiben. Sie gehorcht einer gleichsam unbändigen Zurückhaltung.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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