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L’homme qu’on aimait trop

L’homme qu’on aimait trop beruht auf einem Kriminalfall, der die französische Öffentlichkeit und Justiz seit einigen Jahrzehnten beschäftigt. Er gibt nach wie vor Rätsel auf, denn es wurden weder eine Leiche noch ein Tatort gefunden. Téchiné und seine Koautoren sind auf Spekulationen angewiesen, die sie allerdings gewissenhaft betreiben.

Text: Gerhard Midding / 27. Juli 2015

Agnès’ Mutter erwartet ihre Rückkehr voller Ungeduld. Sie hat ihre Tochter lange Zeit nicht gesehen, denn diese lebte in Afrika. Nun hat sie eine Scheidung hinter sich und will in Nizza ein neues Leben beginnen. Aber Agnès zögert die Wiederbegegnung hinaus. Sie zieht es vor, im Meer schwimmen zu gehen. Die Kälte des Wassers stört sie nicht. Sie fühlt sich in ihrem Element, geniesst jeden Zug, den sie darin macht.

Das Wasser besitzt eine magische Qualität in den Filmen André Téchinés. Der Regisseur liebt es, ihm beim Fliessen zuzusehen. Seine Transparenz und seine Unergründlichkeit sind bei ihm stets Schauwert und Sinnbild zugleich. Immer wieder zeigt er Agnès beim Schwimmen, macht den Zuschauer zum Zeugen des gesteigerten Selbstgefühls, das sie in diesem Element empfindet. Maurice Agnelet, der Anwalt ihrer Mutter, hingegen mag es nicht. Er begnügt sich damit, Agnès zuzuschauen. Einmal nur badet er seine Füsse darin, grössere Zugeständnisse wird er der Leidenschaft der jungen Frau nicht machen. Später allerdings, da hat er sie längst zu seiner Geliebten und zur Verbündeten gegen ihre Mutter gemacht, überquert er mit ihr mehrmals auf dem Motorrad einen Staudamm. Regelmässig rückt Téchiné dabei die Fontäne ins Bild, die am Stauwerk in die Höhe schiesst. Es ist ein rätselhaftes Bild: Vielleicht bezeichnet es den Ort, an dem Agnès Le Roux an Allerheiligen 1977 verschwand oder gar getötet wurde.

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L’homme qu’on aimait trop beruht auf einem Kriminalfall, der die französische Öffentlichkeit und Justiz seit einigen Jahrzehnten beschäftigt. Er gibt nach wie vor Rätsel auf, denn es wurden weder eine Leiche noch ein Tatort gefunden. Téchiné und seine Koautoren sind auf Spekulationen angewiesen, die sie allerdings gewissenhaft betreiben. Ein Vorspanntitel kündigt ein Werk der Fiktion an, das sich frei an tatsächlichen Ereignissen inspiriert. Die Figuren tragen ihre realen Namen. Renée Le Roux leitet den Palais de la Méditerranée, eines der grossen, mondänen Casinos von Nizza. Da es sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, kann sie Agnès ihren Erbteil vorerst nicht auszahlen. Als Renée ihrem bis dahin loyalen Anwalt einen Führungsposten verweigert, intrigiert Agnelet gemeinsam mit ihrer Tochter gegen sie und schliesst einen Pakt mit einem Konkurrenten, Fratoni, dem Verbindungen zur Mafia nachgesagt werden. Renée verliert das Casino. Ihre Tochter wird von Schuld­gefüh­len geplagt; auch leidet sie darunter, dass der verheiratete Maurice neben ihr weitere Maitressen hat. Sie begeht einen ersten Selbstmordversuch. Als sie einige Monate später spurlos verschwindet, räumt Maurice ihre gemeinsamen Konten leer und setzt sich nach Südamerika ab.

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Man spürt Téchinés Neugierde, eine fremde Welt zu betreten, ein Milieu, dessen soziale Rituale ihm rätselhaft, dessen Affekte ihm jedoch vertraut sind. In einigen Momenten gibt sich L’homme qu’on aimait trop als Gangsterfilm (Renée findet eine Kugel als Warnung der Mafia auf ihrem Schreibtisch; der Film zieht dezente Parallelen zwischen den Widersachern) zu erkennen, im letzten Akt auch als Gerichtsdrama. Aber ebenso wie in Les voleurs, der bereits Téchinés Faszination dafür verriet, wie sich Verbrechen organisiert, tritt der Plot hinter eine Erkundung dessen zurück, was das Melodram heute noch sein kann. Téchiné ist von seiner Gültigkeit überzeugt: Bei ihm darf der innere Aufruhr der Figuren so stark sein, dass sie in Ohnmacht fallen können. Mit empathischer Agilität begleitet Julien Hirschs Kamera diesen Parcours durch Familie, Liebe und Geld.

Im Kern zeichnet Téchiné ein dreifaches Por­trät. Er wechselt behände die Perspektiven. Während jedoch die Stärke und Verletzbarkeit der weiblichen Hauptfiguren evident sind, bleibt Maurice ein Mysterium. Guillaume Canet legt ihn als einen trockenen, sterilen Verführer an. Seinem Ehrgeiz gebricht es an jenem Raffinement, das grosse Leinwandschurken auszeichnet. Die Kamera mag ihn noch so unerbittlich fixieren: Seine Beweggründe bleiben eine Leerstelle im Film. Das Drehbuch stellt die Titelfigur notwendig unter Vorbehalt. Vor den französischen Gerichten wurde Agnelet mehrmals frei- und wieder schuldiggesprochen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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