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Trois souvenirs de ma jeunesse

Paul und Esther sind grosse Briefschreiber, ihre Fernbeziehung zwischen Paris und der Provinz besteht aus kaum etwas anderem als aus Briefen. Diese Liebe, in der beide alles füreinander sind und nur durcheinander werden, ist absolut und «intakt» – aber «nur» durch ihre Zeichenhaftigkeit.

Text: Philipp Stadelmaier / 25. Apr. 2016

Paul Dédalus: Der Name verspricht in der Filmografie von Arnaud Desplechin ebenso eine Kontinuität wie ein Labyrinth. Erstmals taucht er auf in Comment je me suis disputé: ma vie sexuelle als Doktorand der Philosophie, gespielt von Mathieu Amalric. In Un conte de Noël ist Dédalus ein depressiver Jugendlicher – Amalric spielt seinen Onkel. In Trois souvenirs de ma jeunesse wird Dédalus – wieder Amalric – zum Anthropologen, der nach vielen Jahren in Tadschikistan nach Paris zurückkehrt. Am Flughafen wird er von der Polizei angehalten: Man hat einen zweiten Paul Dédalus gefunden, irgendwo in Australien.

Wer also ist Paul Dédalus? Drei Erinnerungen erhellen die Frage: eine aus der Kindheit, in der der junge Paul mit einer depressiven Mutter kämpft, die sich bald darauf umbringt; eine aus der frühen Jugend, in der er mit seiner Klasse zu Zeiten der UdSSR auf einer Klassenfahrt nach Minsk im Auftrag einer jüdischen Organisation seinen Pass verschenkt, damit ein Weissrusse unter seinem Namen emigrieren kann; und eine dritte aus Pauls Studienjahren, in der die Geschichte von Pauls Jugendliebe Esther erzählt wird.

Aber was genau erhellen diese drei voneinander unabhängigen Episoden? Nur die mittlere löst ja ein wenig das Rätsel um den doppelten Paul. Die Kindheitsszene geht seiner Verhaftung voraus und bleibt sehr kurz, während die dritte Episode mit Esther eine gute Stunde dauert und den meisten Raum im Film einnimmt. Es ist, als hätte allein die Episode in der Mitte die «richtige» Zeit und den richtigen Abstand zwischen dem Rätsel und seiner Lösung, dem Labyrinth und dem Weg heraus. Die beiden flankierenden Episoden markieren eher zwei Extreme der Identitätsausdünnung: das Kurze und das Lange, die Ellipse und die Dilatation, das endliche Verschwinden und das endlose Herumirren. Ist die Vergangenheit also erzählbar, «intakt», wie Paul am Ende des Films sagt – ebenso wie die Liebe und der Zorn, die in ihr gewachsen sind und die (lösbaren) Rätsel um seine Identität –, so muss man, will man auf sie zurückkommen, doch einen Umweg über diese Flanken nehmen und Verschiebungen in Kauf nehmen: zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Osten und Westen, sich und sich – und eben dem zu Kurzen oder zu Langen, dem Verlorenen (die immer schon verlorene Kindheit) und dem endlosen Weitermarschieren (die Steppen des Mittleren Ostens).

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Ellipsen und Dilatationen: Beides erinnert bei Desplechin an François Truffaut, dem er viel verdankt. Dilatationen, das waren bei Desplechin lange Zeit über vor allem lange Kamerabewegungen, die, wie bei Truffaut, vor allem von Jean Renoir kamen, dessen La règle du jeu (mit seinen genialen Plansequenzen) Desplechins Erstlingsfilm La vie des morts massgeblich inspiriert hatte. Ellipsen, das sind vor allem die «literarischen» Mittel, die mit dem Schreiben konkurrieren, also mit der periodischen Verräumlichung der Schrift und ihrer Abstände: so etwa die Abblenden, die von Truffaut oft benutzten Irisblenden – und besonders die Briefe. Das elliptische Regime ist ein epistolarisches. Paul und Esther sind grosse Briefschreiber, ihre Fernbeziehung zwischen Paris und der Provinz besteht aus kaum etwas anderem als aus Briefen. Schon das Kino des passionierten Briefschreibers Truffaut ist voller Briefe und Briefschreiber. Und so ist Truffaut bei Desplechin vor allem durch Briefe und ihren Transport präsent (in einer Szene wird ein Brief von Esther durch das Auditorium bis zu Paul gereicht, was an die Rohrpostszene in Baisers volés erinnert) und durch die auktoriale Erzählerstimme, die, wie in Jules et Jim oder Les deux anglaises et le continent, die Handlung kommentiert.

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Nun sind allerdings aus den Trois souvenirs de ma jeunesse die langen Kamera- und Schauspielerbewegungen verschwunden. Als seien sie ganz in der Entfaltung des elliptisch-epistolarischen Regimes und in der Länge der Esther-Episode aufgehoben, womit die Briefe, die bislang bei Desplechin eher eine Schlussnote waren (etwa in Un conte de Noël), nunmehr dauerpräsent sind. So gibt es in Desplechins Gebrauch der Briefe einen entscheidenden Unterschied zu Truffaut. Bei Truffaut sind die literarischen Einschübe Teil eines Spiels des Zeichens mit dem Referenten, der erst fehlt, um sich dann langsam in den Film einzutragen (wie die Statue am Anfang von Jules et Jim Jeanne Moreau ankündigt): Das Schreiben dient in seinen Filmen der Versicherung des Sinns, nicht seiner dauernden Verschiebung. Wenn hingegen bei Desplechin Paul zu seinen Erinnerungen zurückkehrt und diese in Briefform lückenlos und «intakt» wiederfindet, wenn dabei weiterhin das Elliptisch-Epistolarische überall regiert und auf die Renoir’schen «zusammenhaltenden» Kamerabewegungen verzichtet wird – dann steht die Konsistenz der Vergangenheit, wie die Beziehung zwischen Paul und Esther, allein unter dem Zeichen des Zeichens selbst, das der einzige Referent bleibt. Esther sagt Paul von Anfang an, dass sie ihn nie vergessen wird; er macht sie «aussergewöhnlich» dadurch, dass er ihr das immer wieder sagt. Und wenn sie vor einem Ruinenbild aus dem 18. Jahrhundert von Hubert Robert stehen, liest er aus ihm heraus lauter Allegorien ihres Charakters. Irgendwann fliessen dann die Tränen von allein, wenn sie an ihn schreibt, täglich, während er versteht, dass er nie genug antworten kann. Diese Liebe, in der beide alles füreinander sind und nur durcheinander werden, ist absolut und «intakt» – aber «nur» durch ihre Zeichenhaftigkeit. Dadurch wird Paul ein regelrechtes «Kind der Schrift»: Wie bei Truffauts Antoine Doinel fehlen auch bei Desplechin die Eltern, sind verrückt oder abwesend, während die wahren Eltern einen adoptieren – hier eine Anthropologieprofessorin, bei der Paul in Paris studiert, eine «femme de lettres».

Der Bezug auf Truffaut wird damit aber auch zur Frage, wie man eine Biografie nur durch das Kino haben kann. Die Nouvelle Vague und Truffaut allen voran haben sich ihre (Adoptiv-)Väter selbst ausgesucht. Für Truffaut wäre dies etwa Renoir; für Desplechin Truffaut. Wenn Dédalus eine Kontinuität und ein Labyrinth ist, dann auch, weil er eine Genealogie durch Adoption nachzeichnet, ein Erbe allein durch das an sich Unverbundene, durch Wahl. Durch den Bezug auf die Anthropologie und Ethnografie und die Reisen ausserhalb von Europa weitet Desplechin aber Truffauts aufs Europäische beschränkte Suche nach den Vätern (Bazin, Renoir, Rossellini) geografisch aus, jenseits der «grossen Männer»: Wer vom Kino adoptiert wird, wird ein Kind von Welt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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